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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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daß er selbst
mit einer deformierten Wirbelsäule leben mußte – und ständig unter Müdigkeit und
Schmerzen litt –, sei ausschlaggebend dafür gewesen, daß er sich so ausschließlich
und beharrlich der Behandlung von Krüppeln verschrieben habe. »Ein persönlicher
Schicksalsschlag ist eine stärkere Triebfeder als jede philanthropische Motivation«,
behauptete Lowji, der zu Sentenzen neigte. Er war von der Pottschen Krankheit fürs
Leben gezeichnet – mit dem verräterischen Buckel, den er mit sich herumtrug wie
ein kleines, aufrecht gehendes Kamel seinen Höcker.
    Ist es da verwunderlich,
daß sich sein Sohn Farrokh einem solchen Engagement nicht gewachsen fühlte? Er begab
sich auf das Spezialgebiet seines Vaters, blieb aber in dessen Schatten; er erwies
Indien auch weiterhin seine Reverenz, fühlte sich aber immer nur als Besucher. Bildung
und Reisen können auch demütigend sein; auf den jungen Dr. Daruwalla hatten sie
genau diese Wirkung. Mag sein, daß er seine Entfremdung, ebenso wie seinen Übertritt
zum Christentum, krampfhaft und grob vereinfachend auf eine fixe Idee zurückführte:
daß er keine Heimat hatte, keine emotionale Bindung an irgendeinen Ort oder ein [119]  Land und daß er sich nirgends zu Hause fühlte – außer im Zirkus und im Duckworth
Club.
    Aber was soll man
machen, wenn ein Mann seine Bedürfnisse und Zwangsvorstellungen weitgehend für sich
behält? Wenn man seine Ängste und Sehnsüchte immer wieder ausspricht, verlieren
sie an Bedrohlichkeit (Gespräche mit Freunden und Familie können dabei durchaus
hilfreich sein) und bekommen mit der Zeit etwas beinahe angenehm Vertrautes. Aber
Dr. Daruwalla behielt seine Gefühle für sich. Nicht einmal seine Frau wußte, wie
fehl am Platz er sich in Bombay fühlte – wie denn auch, wenn er nicht darüber sprach?
Dr. Daruwalla wußte zwar recht wenig über Indien, aber immer noch mehr als seine
Frau Julia, die aus Wien stammte. »Zu Hause«, in Toronto, überließ er ihr das Ruder;
dort hatte sie das Sagen. Es fiel dem Doktor leicht, seiner Frau dieses Vorrecht
einzuräumen, weil sie davon ausging, daß in Bombay er verantwortlich war. Und in
diesem Glauben hatte er sie auch jahrelang gelassen.
    Natürlich wußte
seine Frau über die Drehbücher Bescheid – allerdings nur, daß er sie schrieb, und
nicht, wie viel sie ihm bedeuteten. Farrokh achtete sorgfältig darauf, Julia gegenüber
ihre Bedeutung herunterzuspielen, indem er sich recht geschickt darüber lustig machte.
Schließlich betrachteten alle anderen sie als Witz, und so konnte Farrokh seine
Frau leicht davon überzeugen, daß die Inspector-Dhar-Filme auch für ihn nur ein
Witz waren. Wichtiger war ihm, daß Julia wußte, wie viel ihm Dhar (der liebe Junge)
bedeutete. Verglichen damit fiel es kaum ins Gewicht, wenn sie keine Ahnung hatte,
daß ihm auch die Drehbücher sehr viel bedeuteten. Und eben weil diese Dinge so tief
verborgen lagen, erlangten sie für Dr. Daruwalla einen Stellenwert, der ihnen eigentlich
gar nicht zukam.
    Farrokhs Vater hätte
man nie mangelndes Zugehörigkeitsgefühl nachsagen können. Der alte Lowji beklagte
sich gern über Indien, wobei seine Beschwerden häufig recht kindisch [120]  waren. Seine
Medizinerkollegen warfen ihm allzu forsche Kritik an Indien vor. Sie meinten, es
sei ein Glück für seine Patienten, daß er bei seiner Arbeit als Chirurg behutsamer
– und präziser – vorging. Doch auch wenn Lowji eine eigenartige Einstellung zu seinem
Land hatte, war es doch wenigstens sein Land, dachte Farrokh.
    Als Gründer der
Klinik für Verkrüppelte Kinder in Bombay und Vorsitzender der ersten Gesellschaft
für Kinderlähmung in Indien veröffentlichte der alte Daruwalla einschlägige Artikel
über Polio und diverse Knochenerkrankungen, die zu den besten ihrer Zeit gehörten.
Als meisterhafter Chirurg perfektionierte er Methoden zur Korrektur von Mißbildungen
wie etwa Klumpfuß, Schiefhals und Rückgratverkrümmungen. Dank seiner phantastischen
Sprachbegabung las er die Arbeiten von Little auf englisch, die von Stromeyer auf
deutsch und die von Guérin und Bouvier auf französisch. Obwohl er ein erklärter
Atheist war, überredete er die Jesuiten dazu, in Bombay und Poona Kliniken einzurichten,
in denen Skoliosen, spinale Kinderlähmung und Lähmungen aufgrund von Geburtsschäden
erforscht und behandelt werden konnten. Mit Geldern aus vorwiegend muslimischen
Kreisen holte er einen Gaströntgenologen an die Klinik für Verkrüppelte

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