Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
vertraut, abgetrennt fühlen, jene Menschen, die sogar
in ihrem eigenen Land fremd sind oder sich fremd fühlen. Und er wußte, daß tief
in uns auch ein gewisses Mißtrauen schlummert, daß solche Menschen dieses Gefühl
der Abgrenzung [115]  gegenüber ihrem gesellschaftlichen Hintergrund auch brauchen.
Doch Menschen, die sich ihre Einsamkeit selbst schaffen, sind nicht weniger einsam
als solche, die plötzlich von der Einsamkeit überrascht werden, und sie verdienen
unser Mitgefühl genauso – davon war Dr. Daruwalla überzeugt. Nicht sicher war er
jedoch, ob er über Dhar nachgedacht hatte oder über sich selbst.
    Erst da merkte Farrokh,
daß er allein am Tisch saß. Dhar war so lautlos verschwunden, wie er gekommen war.
Das Aufblitzen von Mr. Sethnas silbernem Serviertablett erinnerte Dr. Daruwalla
an das glänzende Ding, das die Krähe kurz im Schnabel gehalten hatte.
    Der alte Butler
reagierte auf Dr. Daruwallas sichtbaren Erinnerungsfunken wie auf einen Wink. »Ein
Kingfisher, bitte«, sagte der Doktor.
    Wohin die Gedanken des Doktors
schweifen
    Am Spätnachmittag
warf die Sonne immer längere Schatten in den Ladies’ Garden, und Dr. Daruwalla bemerkte
trübsinnig, daß das helle Rosa der Bougainvilleen eine dunklere Tönung angenommen
hatte. Es kam ihm vor, als hätten sich die Blüten blutrot gefärbt, obwohl das übertrieben
war – durchaus typisch für den Erfinder von Inspector Dhar. In Wirklichkeit waren
die Bougainvilleen genauso rosa (und genauso weiß) wie eh und je.
    Später wurde Mr.
Sethna unruhig, weil der Doktor sein geliebtes Bier nicht angerührt hatte.
    »Ist etwas nicht
in Ordnung?« fragte der alte Butler und deutete mit seinem langen Zeigefinger auf
das Kingfisher Lager.
    »Nein, nein, es
liegt nicht am Bier!« sagte Farrokh. Er trank einen Schluck, der ihn nur wenig tröstete.
»Das Bier ist gut«, sagte er.
    [116]  Der alte Mr.
Sethna nickte, als wüßte er genau, was Dr. Daruwalla bedrückte; Mr. Sethna ging
grundsätzlich davon aus, daß er solche Dinge wußte.
    »Ich weiß, ich weiß«,
murmelte der alte Parse. »Die alten Zeiten sind vorüber – es ist nicht mehr wie
in alten Zeiten.«
    Geistlose Wahrheiten
waren ein Spezialgebiet von Mr. Sethna, das Dr. Daruwalla auf die Nerven ging. Als
nächstes, dachte er, wird mir der langweilige alte Esel noch erklären, daß ich nicht
wie mein geschätzter verstorbener Vater bin. Und wirklich schien der Butler auf
dem besten Weg, eine weitere Bemerkung loszulassen, als aus dem Speisesaal ein irritierendes
Geräusch kam. Es drang mit jener unfeinen Aufdringlichkeit, mit der manche Männer
ihre Knöchel knacken lassen, bis in den Ladies’ Garden zu Mr. Sethna und Dr. Daruwalla.
    Mr. Sethna ging
hinein, um nachzusehen. Ohne sich von seinem Stuhl wegzubewegen, wußte Farrokh bereits,
was das Geräusch verursachte. Es war der Deckenventilator, auf dem die Krähe gelandet
war und von dem aus sie die Umgebung vollgekleckert hatte. Möglicherweise hatte
sich dabei ein Ventilatorblatt verbogen oder eine Schraube gelockert. Vielleicht
lief der Ventilator auf Kugellagern, und eine Kugel hatte sich in der Rinne verklemmt
– oder falls es sich um ein Kugelgelenk handelte, mußte dieses geschmiert werden.
Jedenfalls schien der Ventilator irgendwo hängenzubleiben, denn es klickte bei jeder
Umdrehung. Er stockte, blieb beinahe stehen, drehte sich aber noch weiter. Bei jeder
Runde knackte es, als wollte der Mechanismus knirschend zum Stehen kommen.
    Mr. Sethna stand
unter dem Ventilator und schaute dümmlich hinauf. Wahrscheinlich erinnert er sich
nicht mehr an die kleckernde Krähe, dachte Dr. Daruwalla. Der Doktor stellte sich
darauf ein, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, als das unangenehme
Geräusch plötzlich aufhörte. Der Ventilator drehte sich ungehindert wie zuvor. Mr.
Sethna sah [117]  sich verwundert um, als wüßte er nicht genau, wie er in den Speisesaal
gelangt war. Dann ließ er den Blick in den Ladies’ Garden wandern, wo Farrokh noch
immer an seinem Tisch saß. Er kann seinem Vater nicht das Wasser reichen, dachte
der alte Parse.

[118]  4
    In alten Zeiten
    Der Tyrann
    Dr. Lowji
Daruwalla hatte ein persönliches Interesse an den Umständen, die zu Verkrüppelungen
bei Kindern führten, da er selbst als Kind an Wirbeltuberkulose erkrankt war. Obwohl
er sich soweit davon erholt hatte, daß er Indiens berühmtester Pionier auf dem Gebiet
der orthopädischen Chirurgie wurde, behauptete er stets, die Tatsache,

Weitere Kostenlose Bücher