Zirkuskind
Kinder;
reiche Hindus pumpte er für die von ihm initiierten Projekte zur Erforschung und
Behandlung von Arthritis an. Er schrieb sogar einen Bettelbrief an den amerikanischen
Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der der Episkopalkirche angehörte, und teilte
ihm genau mit, wie viele Inder an derselben Krankheit litten wie er. Daraufhin erhielt
er einen höflichen Antwortbrief und einen Scheck.
Lowji machte sich
einen Namen in der Organisation für Katastrophenmedizin, die vor allem in der Zeit
der Demonstrationen, die der Unabhängigkeit vorausgingen, und bei den blutigen Aufständen
vor und nach der Teilung des Landes in Indien und Pakistan kurzfristig aktuell war,
dann aber einschlief. Bis heute [121] versuchen Freiwillige diese Organisation wiederaufleben
zu lassen, indem sie Lowjis überall propagierten Ratschlag zitieren: »In der Katastrophenmedizin
gilt das Kriterium der Dringlichkeit: Zuerst behandelt man große Amputationen und
schwere Verletzungen an Extremitäten, dann Brüche und Schnittwunden. Kopfverletzungen
überläßt man am besten Fachleuten, sofern welche greifbar sind.« Irgendwelchen Fachleuten,
meinte er damit, denn Kopfverletzungen gab es immer. (Im Freundeskreis bezeichnete
Lowji die versandete Bewegung als Krawallmedizin – seiner Ansicht nach »etwas, was
Indien immer brauchen wird«.)
Dr. Lowji Daruwalla
war der erste Arzt in Indien, der bei der Behandlung von Schmerzen im Lendenwirbelbereich
den revolutionären Denkansatz aufgriff, den er angeblich Joseph Seaton Barr aus
Harvard verdankte. Allerdings erinnerte man sich im Duckworth Sports Club an Farrokhs
geschätzten Vater eher wegen seiner Behandlung von Tennisellbogen mit Eisbeuteln
und seiner Angewohnheit, den Kellnern ihre erbärmliche Haltung vorzuwerfen, sobald
er etwas getrunken hatte. (»Schauen Sie mich an! Ich habe einen Buckel und halte
mich trotzdem gerader als Sie!«) Aus Verehrung für den berühmten Dr. Lowji Daruwalla
hielt Mr. Sethna eisern an seiner kerzengeraden Haltung fest.
Aber warum verehrte
Dr. Daruwalla junior seinen verstorbenen Vater nicht?
Es lag nicht daran,
daß Farrokh der zweite Sohn und das jüngste von drei Kindern war; das hatte ihm
nie zu schaffen gemacht. Farrokhs älterer Bruder Jamshed, der Farrokh nach Wien
geholt hatte und jetzt in Zürich als Kinderpsychiater tätig war, hatte Farrokh auch
mit dem Gedanken vertraut gemacht, eine Europäerin zu heiraten. Der alte Lowji hatte
nie etwas gegen Mischehen gehabt – grundsätzlich nicht und auch nicht im Fall von
Jamsheds Wiener Braut Josefine, deren jüngere [122] Schwester Julia wenig später Farrokh
heiratete. Julia wurde die Lieblingsschwiegertochter des alten Lowji. Er schätzte
ihre Gesellschaft sogar noch mehr als die des Londoner Facharztes für Ohrenleiden,
der Farrokhs Schwester geheiratet hatte – und das trotz seiner geradezu penetranten
Anglophilie. Nach der Unabhängigkeit bewunderte und klammerte sich Lowji an alles
Englische, das sich in Indien gehalten hatte.
Aber der Grund für
Farrokhs mangelnde Hochachtung vor seinem berühmten Vater war auch nicht dessen
Faible für alles Englische. Die vielen Jahre in Kanada hatten aus Dr. Daruwalla
junior einen gemäßigten Freund der Engländer gemacht. (Zugegeben, das Attribut ›englisch‹
bedeutet in Kanada etwas ganz anderes als in Indien – es hat keinen politischen
Beigeschmack und ist gesellschaftlich akzeptabel. Viele Kanadier mögen die Briten
ganz gern.)
Auch darüber, daß
der alte Lowji keinen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegen Mohandas Karamchand
Gandhi machte, regte sich Farrokh nicht auf. Auf Dinnerparties, vor allem bei Nichtindern
in Toronto, hatte er durchaus seinen Spaß an den überraschten Gesichtern, die er
prompt erntete, wenn er die Meinung seines verstorbenen Vaters über den verstorbenen
Mahatma zum besten gab.
»Er war ein verdammter charka -drehender, lendengeschürzter Pandit!«
beschwerte er sich. »Er hat seine Religion in seinen politischen Aktivismus hineingezogen
– und dann hat er diesen politischen Aktivismus zu einer Religion gemacht.« Der
alte Mann hatte keinerlei Bedenken gehabt, seine Ansichten auch in Indien lauthals
zu verkünden – und nicht nur innerhalb der sicheren Mauern des Duckworth Club. »Die
verdammten Hindus… die verdammten Sikhs… die verdammten Muslime«, pflegte er zu
sagen. »Und die verdammten Parsen genauso!« setzte er hinzu, wenn ihn besonders
eifrige Anhänger der Lehre Zarathustras dazu drängten, den
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