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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Parsen gegenüber Loyalität
zu [123]  bekunden. »Und die verdammten Katholiken«, murmelte er die wenigen Male, die
er sich in St. Ignatius blicken ließ, um sich irgendwelche schauerlichen Schulaufführungen
anzusehen, in denen seine Söhne Nebenrollen spielten.
    Der alte Lowji erklärte,
das Dharma sei »reine Selbstgefälligkeit – nichts als eine Rechtfertigung für das
Nichtstun.« Er behauptete, das Kastenwesen und die Aufrechterhaltung der Unberührtheit
seien nichts anderes als »die fortwährende Verehrung von Scheiße. Und wenn man Scheiße
verehrt, muß man natürlich bestimmten Leuten die Pflicht auferlegen, die Scheiße
wegzuräumen!« Absurderweise ging Lowji davon aus, daß er es sich leisten konnte,
sich derart respektlos zu äußern, weil sein offensichtliches Engagement für verkrüppelte
Kinder beispiellos war.
    Er wetterte, daß
Indien keine Ideologie besäße. »Religion und Nationalismus sind unser lahmer Ersatz
für konstruktive Ideen«, verkündete er. »Das ewige Meditieren wirkt sich auf das
Individuum ebenso zerstörerisch aus wie das Kastenwesen, denn es ist nichts anderes
als eine Form der Herabwürdigung des Individuums. Inder schließen sich Gruppen an,
statt eigene Ideen zu entwickeln. Wir billigen Rituale und Tabus, statt uns Ziele
für eine gesellschaftliche Veränderung zu stecken – für die Verbesserung unserer
Gesellschaft. Bewegt eure Gedärme vor dem Frühstück, nicht danach! Wen kümmert das
schon! Sorgt dafür, daß die Frauen Schleier tragen! Warum sich Gedanken machen?
Und gleichzeitig haben wir keine Vorschriften gegen den Dreck, gegen das Chaos!«
    In einem so empfindlichen
Land ist Taktlosigkeit schlicht und einfach dumm. Rückblickend wurde Dr. Daruwalla
junior klar, daß sein Vater eine tickende Zeitbombe war. Niemand, nicht einmal ein
Arzt, der sich verkrüppelten Kindern widmet, kann auf die Dauer herumlaufen und
behaupten, das Karma sei »die Scheiße, die dafür sorgt, daß Indien ein rückständiges
Land [124]  bleibt«. Man kann die Vorstellung, daß das gegenwärtige Leben, und sei es
noch so schrecklich, der angemessene Lohn für das vergangene Leben ist, mit Fug
und Recht als logische Basis dafür betrachten, daß man nichts unternimmt, um die
eigene Situation zu verbessern, aber eine solche Überzeugung als »Scheiße« zu bezeichnen
ist mit Sicherheit nicht ratsam. Selbst als Parse und bekehrter Christ – und obwohl
er nie ein Hindu gewesen war – erkannte Dr. Daruwalla junior, daß die Übertreibungen
seines Vaters unklug waren.
    Zwar konnte der
alte Lowji die Hindus nicht ausstehen, aber über die Muslime äußerte er sich ebenso
beleidigend – »Einem Muslim sollte man nur Spanferkel zu Weihnachten schenken!«
Seine Empfehlungen für die katholische Kirche waren nachgerade entsetzlich. Er meinte
nämlich, man solle sämtliche überzeugten Katholiken aus Goa hinausjagen oder besser
noch – im Gedenken an die Verfolgungen und Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen,
die sie selbst veranlaßt hatten – öffentlich hinrichten. Er schlug vor, »die abscheuliche
Grausamkeit, die am Kruzifix dargestellt wird, in Indien zu verbieten«. Damit meinte
er den bloßen Anblick des gekreuzigten Christus, den er als »eine Form von westlicher
Pornographie« bezeichnete. Außerdem erklärte er, alle Protestanten seien heimliche
Calvinisten, und Calvin sei ein heimlicher Hindu gewesen! Damit wollte Lowji ausdrücken,
daß ihm alles verhaßt war, was darauf hinauslief, daß man die Erbärmlichkeit des
Menschen akzeptierte; und noch verhaßter war ihm die Überzeugung, von Gott auserwählt
zu sein, die er als »christliches Dharma« bezeichnete. Er zitierte mit Vorliebe
Martin Luther, der gesagt hatte: »Was wäre es, ob Einer schon um Besseres und der
christlichen Kirche willen eine gute, starke Lüge täte!« Damit meinte Lowji, daß
er an den freien Willen glaubte, an die sogenannten guten Werke und an ȟberhaupt
keinen Scheißgott«.
    Bezüglich der Autobombe,
durch die er ums Leben [125]  gekommen war, hielt sich im Duckworth Club hartnäckig
das Gerücht, sie sei das geistige Produkt einer hinduistisch-muslimisch-christlichen
Verschwörung gewesen – möglicherweise die erste kooperative Bemühung dieser Art –, aber Dr. Daruwalla junior wußte, daß nicht einmal die Parsen, die selten gewalttätig
wurden, als Mittäter ausgeschlossen werden konnten. Obwohl der alte Lowji Parse
war, machte er sich über die überzeugten Anhänger der zoroastrischen

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