Zirkuskind
Lehre ebenso
lustig wie über alle anderen wirklich Gläubigen. Aus irgendeinem Grund blieb nur
Mr. Sethna von seiner Verachtung verschont, und umgekehrt genoß Lowji dessen uneingeschränkte
Hochachtung. Er war der einzige Atheist, der nie unter der ewigen Geringschätzung
des glaubenseifrigen Butlers zu leiden hatte. Vielleicht war der Zwischenfall mit
dem heißen Tee das, was die beiden verband und sie sogar ihre unterschiedlichen
religiösen Auffassungen hatte überwinden lassen.
Am meisten wurmte
Lowji bis zum Schluß das gedankliche Konzept des Dharma. »Wenn du in einer Latrine
geboren bist, ist es besser für dich, in einer Latrine zu sterben, als eine angenehmer
riechende Position im Leben anzustreben! Jetzt frage ich dich: Ist das nicht Unsinn?«
Farrokh hielt seinen Vater für verrückt – oder zumindest hatte der bucklige Alte
außer im Bereich der orthopädischen Chirurgie einfach keine Ahnung. Selbst Bettler
trachten danach, ihre Situation zu verbessern, oder etwa nicht?
Man kann sich vorstellen,
daß die ruhige Beschaulichkeit des Duckworth Club häufig dadurch erschüttert wurde,
daß der alte Lowji jedermann – selbst den Kellnern mit ihrer schlechten Haltung
– erklärte, die Wurzel aller Mißstände in Indien seien die Kastenvorurteile, auch
wenn die meisten Duckworthianer diese Ansicht insgeheim teilten.
Am meisten verübelte
Farrokh seinem Vater, daß ihn dieser streitsüchtige alte Atheist sowohl um die Religion
als auch um [126] seine Heimat betrogen hatte. Mit seinem ungezügelten Haß auf jeglichen
Nationalismus hatte er seinen Kindern das, was eine Nation ausmacht, mehr als nur
intellektuell vermiest und sie damit aus Bombay verjagt. Erst hatte er seine einzige
Tochter nach London und seine beiden Söhne nach Wien geschickt, damit sie sich dort
Bildung und Kultiviertheit aneigneten, und dann besaß er die Frechheit, von allen
dreien enttäuscht zu sein, weil sie nicht in Indien leben wollten.
»Einwanderer bleiben
ihr Leben lang Einwanderer!« hatte Lowji Daruwalla erklärt. Das war noch so einer
von seinen Sprüchen, nur hatte dieser einen Stachel, der für immer festsaß.
Zwischenspiel in Österreich
Farrokh
war im Juli 1947 nach Österreich gereist, um sich auf sein Studium an der Universität
Wien vorzubereiten; infolgedessen versäumte er die Unabhängigkeit. (Später dachte
er, er sei im entscheidenden Moment einfach nicht zu Hause gewesen; und danach war
er eigentlich nie mehr »zu Hause«.) So ziemlich die aufregendste Zeit, die ein Inder
in Indien verbringen konnte! Statt dessen machte der junge Daruwalla die Bekanntschaft
seines Lieblingsdesserts, Sachertorte mit Schlag, und der anderen Bewohner der Pension
Amerling in der Prinz-Eugen-Straße, die im sowjetischen Sektor lag. Zur damaligen
Zeit war Wien in vier Teile geteilt. Die Amerikaner und die Briten hatten sich die
besten Wohngegenden geschnappt und die Franzosen die besten Geschäftsviertel. Die
Russen waren realistisch gewesen: Sie hatten sich in den Außenbezirken bei der Arbeiterklasse
niedergelassen, wo die gesamte Industrie angesiedelt war, und sich rund um die Innenstadt
in der Nähe der Botschaften und Regierungsgebäude eingenistet.
Von der Pension
Amerling aus mit ihren hohen Fenstern, [127] ihren verrosteten, eisernen Blumenkästen
und den vergilbten Vorhängen hatte man einen Blick auf den Kriegsschutt in der Prinz-Eugen-Straße
und auf die Kastanien im Garten des Belvedere. Von seinem Schlafzimmerfenster im
dritten Stock aus konnte der junge Farrokh erkennen, daß die Steinmauer zwischen
dem Oberen und dem Unteren Belvedere mit Maschinengewehreinschlägen wie mit Pockennarben
übersät war. Um die Ecke, in der Schwindgasse, hatten sich die Russen der bulgarischen
Botschaft bemächtigt. Und im Foyer der polnischen Bibliothek hatten sie aus unerklärlichen
Gründen rund um die Uhr eine bewaffnete Wache postiert. Das Café Schnitzler an der
Ecke Schwindgasse und Argentinierstraße wurde in regelmäßigen Abständen geräumt,
so daß die Sowjets es nach Bomben durchsuchen konnten. Sechzehn von einundzwanzig
Bezirken hatten kommunistische Stadthauptleute.
Die Brüder Daruwalla
waren überzeugt, daß sie die einzigen Parsen in der besetzten Stadt waren, wenn
nicht sogar die einzigen Inder. Für Wiener Begriffe sahen sie nicht besonders indisch
aus; dafür waren sie nicht dunkelhäutig genug. Farrokh hatte keine so helle Haut
wie Jamshed, aber bei beiden Brüdern schlugen die alten persischen Vorfahren
Weitere Kostenlose Bücher