Zirkuskind
vor kurzem gestorben, und ihn selbst trennten nur noch wenige Jahre vom Ruhestand.
Er arbeitete noch immer für die an der Klinik für Verkrüppelte Kinder tätigen Chirurgen
und diente Farrokh als Sekretär, wann immer der Kanadier als chirurgischer Konsiliar
in Bombay arbeitete. Und jetzt fand Ranjit, daß es an der Zeit war, wieder zu heiraten.
Seiner Ansicht nach duldete das keinen Aufschub, denn wenn er sich als Klinikmitarbeiter
bezeichnete, ließ ihn das [229] jünger erscheinen, als wenn er zugeben mußte, daß er
sich im Ruhestand befand. Um ganz sicherzugehen, hatte er bei den letzten Heiratsanzeigen
versucht, aus seiner beruflichen Stellung wie auch aus dem bevorstehenden Ruhestand
Kapital zu schlagen, und angegeben, daß er eine »zufriedenstellende Position« innehatte
und zugleich einem »s. aktiven vorzeitg. Ruhestand« entgegensah.
Was Dr. Daruwalla
an Ranjits jetzigen Heiratsannoncen so unpassend fand, waren Angaben wie »s. aktiv«
und die Tatsache, daß Ranjit ein schamloser Lügner war. Dank der bei der ›Times
of India‹ üblichen Verfahrensweise – statt ihre Namen preiszugeben, konnten sich
die inserierenden Heiratskandidaten und -kandidatinnen hinter der Anonymität einer
Chiffre verstecken – war es Ranjit möglich, in ein und derselben Sonntagsausgabeein
halbes Dutzend Anzeigen aufzugeben. Er hatte festgestellt, daß es ebensogut ankam,
wenn man behauptete, Kastenzugehörigkeit sei »kein Hindernis«, wie wenn man sich
als Brahmane verkaufte – »kastenbewußt und religiös, übereinstimmende Horoskope
Voraussetzung«. Folglich pries Ranjit mehrere Versionen seiner selbst gleichzeitig
an. Farrokh erklärte er, daß er sich die allerbeste Frau aussuchen wollte, egal,
ob mit oder ohne Kastenbewußtsein und Religion. Warum sollte er sich nicht den Vorteil
verschaffen, alle Frauen kennenzulernen, die zu haben waren?
Dr. Daruwalla war
es peinlich, daß er sich in Ranjits Heiratsangelegenheiten hatte hineinziehen lassen.
Jeden Sonntag lasen er und Julia die Heiratsinserate in der ›Times of India‹ durch
und versuchten um die Wette, sämtliche von Ranjit stammenden Anzeigen ausfindig
zu machen. Doch die telefonische Nachricht des ältlichen Sekretärs hatte nichts
mit seinen Heiratsabsichten zu tun. Vielmehr wollte er sich wieder einmal über »die
Frau des Zwergs« beschweren. Das war Ranjits abfällige Bezeichnung für Deepa, die
er derart massiv mißbilligte, wie dies sonst nur noch [230] Mr. Sethna fertiggebracht
hätte. Dr. Daruwalla fragte sich, ob sich Arzthelfer generell so grausam und ablehnend
gegenüber allen Leuten verhielten, die die Aufmerksamkeit eines Arztes beanspruchten.
Entsprang diese Feindseligkeit wirklich nur dem aufrichtigen Wunsch, den Arzt davor
zu bewahren, seine Zeit zu verschwenden?
Gerechterweise muß
man zugeben, daß Deepa Dr. Daruwallas Zeit besonders ungeniert verschwendete. Sie
hatte angerufen, um einen Vormittagstermin für die entlaufene Kindprostituierte
zu vereinbaren – noch bevor Vinod den Doktor dazu überredet hatte, diesen Neuzugang
zu Mr. Gargs Mädchenstall zu untersuchen. Ranjit schilderte die Patientin als »angeblich
knochenlos«, denn Deepa hatte ihm gegenüber zweifellos die im Blue Nile übliche
Bezeichnung (»ohne Knochen«) verwendet. Ranjit ließ seine Geringschätzung für das
Vokabular, das die Frau des Zwergs benutzte, deutlich durchblicken. Deepas Beschreibung
zufolge hätte das Mädchen durch und durch aus Plastik sein können – »schon wieder
ein medizinisches Wunder, und zweifellos eine Jungfrau«, beendete Ranjit seine bissige
Nachricht.
Die nächste Nachricht
stammte von Vinod und war schon überholt. Der Zwerg mußte angerufen haben, während
Farrokh noch im Ladies’ Garden im Duckworth Club gesessen hatte. Eigentlich war
die Nachricht für Inspector Dhar.
»Unser beliebter
Inspector hat mir gesagt, daß er heute auf Ihrem Balkon schläft«, begann der Zwerg.
»Falls er seine Meinung ändert, ich gondle nur durch die Gegend und schlage die
Zeit tot, Sie wissen schon. Falls mich der Inspector braucht, die Portiers vom Taj
und vom Oberoi kennt er ja – wegen der Benachrichtigung, meine ich. Ich muß spätnachts
jemand vom Wetness Cabaret abholen«, gab Vinod zu, »aber das ist, während Sie schlafen.
Am Morgen hole ich Sie ab wie üblich. Übrigens lese ich gerade eine Zeitschrift,
in der ich drin bin!« schloß der Zwerg.
Die einzigen Zeitschriften,
die Vinod las, waren [231] Filmzeitschriften, in denen er
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