Zirkuskind
alte Geschichte von
»damals, als mir Farrokh die Elefanten im Meer gezeigt hat«. Mehr hatte der Doktor
nicht hören wollen, weil er Angst vor dem anklagenden Ton hatte, den er aus John
D.s Erinnerungen heraushörte. Der liebe Junge mußte daran denken, wie er bei Ganesh
Chaturthi, den Festivitäten anläßlich des Geburtstages des Gottes Ganesh, Angst
bekommen hatte. [222] Wie jedes Jahr war die halbe Stadt zur Chowpatty-Beach geströmt,
wo die Leute Götterbilder des elefantenköpfigen Ganesh ins Wasser tauchten. Farrokh
hatte den Jungen nicht auf den orgiastischen Taumel der Menge vorbereitet – und
erst recht nicht auf die zum Teil überlebensgroßen Elefantenköpfe. Soweit sich Farrokh
erinnern konnte, hatte er John D. bei diesem Ausflug das erste und einzige Mal hysterisch
erlebt. Der liebe Junge schrie: »Sie ertränken die Elefanten! Da werden die Elefanten
aber böse sein!«
Und dann stelle
man sich vor, daß Farrokh den alten Lowji kritisiert hatte, weil er den Jungen sosehr
von der Außenwelt abschirmte. »Wenn du ihn nur in den Duckworth Club mitnimmst,
wie soll er da je etwas über Indien erfahren?« hatte Farrokh zu seinem Vater gesagt.
Was für ein scheinheiliger Patron doch aus mir geworden ist! dachte Dr. Daruwalla,
denn er kannte niemanden in Bombay, der sich vor Indien so erfolgreich versteckt
hatte wie er im Duckworth Club – seit Jahren.
Er hatte einen Achtjährigen
zur Chowpatty-Beach mitgenommen, damit er sich den Pöbel ansah, Hunderttausende
von Menschen, die Götzenbilder des elefantenköpfigen Gottes ins Meer tunkten. Was
sollte das Kind seiner Meinung nach davon halten? Es war nicht der richtige Zeitpunkt,
um ihm die ablehnende Haltung der Briten gegenüber »Menschenansammlungen« zu erläutern,
ihre aufreizend herbe Kritik an Versammlungen jeder Art; der hysterische John war
noch zu klein, um diese symbolische Demonstration für die Meinungsfreiheit würdigen
zu können. Farrokh versuchte, den weinenden Jungen gegen den Strom aus der Menge
zu tragen, aber immer mehr riesige Götzenbilder von Lord Ganesha drückten dagegen
und drängten sie ans Wasser zurück. »Es ist nur ein Fest«, flüsterte Farrokh dem
Kind ins Ohr. »Kein Tumult.« Er spürte, wie der kleine Junge in seinen Armen zitterte.
Damals war dem Doktor in vollem Umfang bewußt geworden, wie wenig Ahnung er [223] hatte,
nicht nur von Indien, sondern auch davon, wie empfindsam Kinder waren.
Jetzt hätte er gern
gewußt, ob John D. zu Julia sagte: »Das ist meine erste Erinnerung an Farrokh.«
Und ich bringe den lieben Jungen nach wie vor in Schwierigkeiten! dachte Dr. Daruwalla.
Um sich abzulenken,
steckte er seine Nase in den großen Topf mit dhal . Roopa hatte das Hammelfleisch schon
vor langer Zeit hineingetan und erinnerte den Doktor mit der Bemerkung, daß Hammel
zum Glück nicht verkoche, daran, daß er sich verspätet hatte. »Aber der Reis ist
trocken geworden«, fügte sie betrübt hinzu.
Der alte Nalin,
ein unverbesserlicher Optimist, versuchte Dr. Daruwalla aufzuheitern. In seinem
bruchstückhaften Englisch sagte er: »Aber ganz viel Bier!«
Dr. Daruwalla hatte
ein schlechtes Gewissen, daß immer soviel Bier im Haus war. Sein Fassungsvermögen
für Bier erschreckte ihn, und Dhars Vorliebe für dieses Gebräu schien geradezu grenzenlos.
Da Nalin und Roopa die Einkäufe erledigten, hatte Dr. Daruwalla bei dem Gedanken,
daß sich das alte Ehepaar mit den schweren Flaschen abschleppte, ebenfalls ein schlechtes
Gewissen. Dazu kam noch die Sache mit dem Aufzug: Da Nalin und Roopa Dienstboten
waren, durften sie ihn nicht benutzen. Selbst mit diesen vielen Bierflaschen mußten
die alten Leute mühsam die Treppen hinaufstapfen.
»Und ganz viele
Nachrichten!« informierte Nalin den Doktor. Der alte Mann war hellauf begeistert
von dem neuen Anrufbeantworter. Julia hatte darauf bestanden, so ein Ding anzuschaffen,
weil es für Nalin und Roopa schlichtweg unmöglich war, Nachrichten entgegenzunehmen;
sie konnten weder Telefonnummern notieren noch Namen richtig aufschreiben. Wenn
sich der Anrufbeantworter meldete, hörte ihm der alte Mann mit Begeisterung zu,
weil er ihn jeder Verantwortung für die Übermittlung der Nachrichten enthob.
[224] Farrokh nahm
sich ein Bier mit. Die Wohnung kam ihm recht klein vor. In Toronto hatten die Daruwallas
ein riesiges Haus. In Bombay mußte sich der Doktor durch das Wohnzimmer schlängeln,
das auch als Eßzimmer diente, um ins Schlafzimmer und ins Bad zu gelangen.
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