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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Aber
Dhar und Julia unterhielten sich noch immer auf dem Balkon und bemerkten ihn gar
nicht. John D. erzählte gerade den schönsten Teil der Geschichte, der Julia jedesmal
zum Lachen brachte.
    »Sie ertränken die
Elefanten!« rief John D. »Da werden die Elefanten aber böse sein!« Dr. Daruwalla
hatte immer gefunden, daß das auf deutsch nicht ganz richtig klang.
    Wenn ich mir ein
Bad einlaufen lasse, überlegte Farrokh, hören sie es und wissen, daß ich zu Hause
bin. Ich wasche mich lieber rasch am Waschbecken. Er breitete ein sauberes weißes
Hemd auf dem Bett aus und entschied sich für eine untypisch grelle Krawatte mit
einem leuchtendgrünen Papagei – ein altes Weihnachtsgeschenk von John D. und mit
Sicherheit keine Krawatte, die Farrokh je in der Öffentlichkeit getragen hätte.
Ihm war nicht klar, daß diese Krawatte seinen dunkelblauen Anzug zumindest aufhellen
würde. Das war eine absurde Aufmachung für Bombay, zumal für ein Abendessen zu Hause,
aber Julia war eben Julia.
    Nachdem sich der
Doktor gewaschen hatte, warf er einen raschen Blick auf den Anrufbeantworter; das
rote Lämpchen blinkte. Er machte sich nicht die Mühe, die Anzahl der Anrufe zu zählen.
Hör sie dir jetzt nicht an, ermahnte er sich. Die Eigenschaft, Dinge hinauszuzögern,
war bei ihm tief verwurzelt. Aber wenn er sich jetzt an dem Gespräch zwischen John
D. und Julia beteiligte, würde das unvermeidlich zu Spannungen wegen John D.s Zwillingsbruder
führen. Während Farrokh noch überlegte, bemerkte er den Stapel Post auf seinem Schreibtisch.
Dhar war offenbar im Filmstudio gewesen und hatte die Fanpost abgeholt, die vorwiegend
aus haßerfüllten Briefen bestand.
    Sie waren vor langer
Zeit übereingekommen, daß [225]  Dr. Daruwalla die Aufgabe zufiel, diese Briefe zu öffnen
und zu lesen. Obwohl sie an Inspector Dhar gerichtet waren, bezogen sie sich nur
selten auf Dhars Fähigkeiten als Schauspieler oder Synchronsprecher, sondern beschäftigten
sich ausnahmslos mit der Filmfigur Dhar oder einem bestimmten Drehbuch. Da allgemein
davon ausgegangen wurde, daß Dhar der Autor der Drehbücher und damit selbst der
Schöpfer dieser Figur war, galt die grundsätzliche Empörung der Briefeschreiber
dem Autor; ihre Angriffe richteten sich auf den Mann, der sich das alles ausgedacht
hatte.
    Vor den Morddrohungen,
vor allem vor den echten Morden an echten Prostituierten, hatte Dr. Daruwalla es
nicht sonderlich eilig gehabt, diese Briefe zu lesen. Aber inzwischen hielten so
weite Teile der Bombayer Bevölkerung die Mordserie an Käfigmädchen für eine Nachahmung
der Filmmorde, daß dieBriefe an Inspector Dhar eine schlimme Wendung genommen hatten.
Und in Anbetracht des Mordes an Mr. Lal fühlte sich Dr. Daruwalla verpflichtet,
die »Fanpost« auf Drohungen jeder Art hin durchzusehen. Er warf einen Blick auf
den stattlichen Stapel frisch eingetroffener Briefe und überlegte, ob er Dhar und
Julia in Anbetracht der besonderen Situation bitten sollte, ihm beim Durchlesen
zu helfen. Als ob ihr gemeinsamer Abend nicht schon heikel genug zu werden drohte!
Vielleicht später, dachte Farrokh – falls die Sprache darauf kommt.
    Doch während er
sich ankleidete, brachte er es nicht fertig, das hartnäckig blinkende Lämpchen des
Anrufbeantworters zu ignorieren. Er brauchte sich ja nicht die Zeit zu nehmen, jemanden
zurückzurufen, überlegte er, während er die Krawatte band. Es konnte gewiß nichts
schaden, die Anrufe abzuhören – er konnte sie sich ja kurz notieren und später zurückrufen.
Und so suchte Farrokh nach einem Notizblock und einem Stift, was gar nicht so einfach
war, wenn man nicht gehört werden wollte, weil das winzige Schlafzimmer mit lauter
zerbrechlichen, klirrenden [226]  viktorianischen Sächelchen vollgestopft war, die aus
dem stattlichen Haus seiner Eltern an der Ridge Road stammten. Obwohl er nur Dinge
mitgenommen hatte, die versteigern zulassen er nicht übers Herz gebracht hätte,
war sogar sein Schreibtisch mit den Nippes seiner Kindheit und Fotografien von seinen
drei Töchtern vollgestellt. Da alle drei verheiratet waren, standen auf Dr. Daruwallas
Schreibtisch auch noch ihre Hochzeitsfotos – und die Fotos der diversen Enkelkinder.
Dazu kamen außerdem seine Lieblingsfotos von John D. – beim Skifahren in Wengen
und Klosters, beim Langlaufen in Pontresina und beim Bergsteigen in Zermatt – und
mehrere gerahmte Programmhefte des Schauspielhauses Zürich, in denen John Daruwalla
sowohl in Nebenrollen als auch

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