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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Mann in schwarzer Soutane, der ein Heer von Putzern dazu anhielt, immer
noch mehr Staubwolken von den Steinböden aufzuwirbeln. Außerdem wußte er noch, daß
Frater Gabriel – außer für die Post – auch für das sonstige Dienstpersonal und für
den Garten, die Küche und den Wäscheraum verantwortlich war. Aber seine Leidenschaft
galt den Ikonen. Frater Gabriel war ein freundlicher, lebhafter Mensch, weder ein
Intellektueller noch ein Priester, und mußte nach Dr. Daruwallas Berechnung jetzt
etwa fünfundsiebzig sein. Kein Wunder, daß er Briefe verlegt, dachte Farrokh.
    Also wußte niemand
genau, wann Dhars Zwillingsbruder in Bombay ankommen würde! Pater Cecil fügte hinzu,
der Amerikaner müsse praktisch sofort mit dem Unterricht beginnen. In St. Ignatius
gab es in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr nämlich keine Ferien; nur am
Weihnachtstag und am Neujahrstag war schulfrei, ein Ärgernis, das Farrokh noch aus
seiner eigenen Schulzeit in Erinnerung war. Wahrscheinlich nahm die Schule noch
immer Rücksicht auf den Vorwurf nichtchristlicher Eltern, Weihnachten würde eine
übertriebene Bedeutung beigemessen.
    Möglicherweise,
so meinte Pater Cecil, würde sich der junge Martin bei Dr. Daruwalla melden, bevor
er sich in St. Ignatius meldete. Oder vielleicht hatte der Doktor ja schon etwas
von dem Amerikaner gehört? Schon? dachte Dr. Daruwalla, den allmählich Panik ergriff.
    [249]  Dhars Zwillingsbruder
konnte jederzeit eintreffen, und Dhar hatte noch immer keine Ahnung! Außerdem würde
der naive Amerikaner um zwei oder drei Uhr nachts am Flughafen Sahar ankommen, da
sämtliche Flüge aus Europa und Nordamerika um diese Zeit eintrafen. (Dr. Daruwalla
ging davon aus, daß alle Amerikaner, die nach Indien kamen, »naiv« waren.) Um diese
nachtschlafene Zeit würde St. Ignatius fest abgeschlossen sein – wie eine Burg oder
Kaserne, wie eine Enklave oder eben wie ein Kloster. Wenn die Patres und Fratres
nicht genau wußten, wann Martin Mills ankam, würde niemand für ihn ein Licht an-
oder eine Tür auflassen, und niemand würde ihn vom Flughafen abholen. Und dann kam
der verdutzte Missionar womöglich direkt zu Dr. Daruwalla; gut denkbar, daß er um
drei oder vier Uhr morgens einfach an seiner Türschwelle aufkreuzte. (Dr. Daruwalla
ging davon aus, daß alle Missionare, die nach Indien kamen, »verdutzt« waren.)
    Farrokh konnte sich
nicht mehr erinnern, was er Vera geschrieben hatte und ob er dieser schrecklichen
Frau seine Privatadresse oder die Adresse der Klinik für Verkrüppelte Kinder gegeben
hatte. Passenderweise hatte sie sich über den Duckworth Club mit ihm in Verbindung
gesetzt. Von Bombay, von ganz Indien, war der Duckworth Club womöglich das einzige,
was Vera in Erinnerung behalten hatte. (Die Kuh hatte sie zweifellos verdrängt.)
    Zum Teufel mit anderer
Leute Kuddelmuddel! murmelte Dr. Daruwalla vor sich hin. Er war Chirurg und als
solcher ein peinlich sauberer und ordentlicher Mensch. Die massive Schlamperei in
zwischenmenschlichen Beziehungen widerte ihn an, vor allem in den Beziehungen, für
die er sich besonders verantwortlich fühlte und die er fürsorglich gepflegt hatte.
Beziehungen zwischen Bruder und Schwester, Bruder und Bruder, Kind und Eltern, Eltern
und Kind. Was war nur mit den Menschen los, daß sie bei diesen grundlegenden [250]  zwischenmenschlichen
Beziehungen ein derart heilloses Durcheinander anrichteten?
    Dr. Daruwalla wollte
Dhar nicht vor seinem Zwillingsbruder verstecken. Er wollte Danny nicht verletzen
– indem er ihm den grausamen Beweis dafür präsentierte, was seine Frau getan und
wie sie ihn belogen hatte –, aber er hatte das Gefühl, daß er eigentlich nur Vera
schützte, wenn er ihr half, ihre Lüge aufrechtzuerhalten. Dhar selbst fand alles,
was er über seine Mutter wußte, so widerwärtig, daß er mit Mitte Zwanzig aufgehört
hatte, sich für sie zu interessieren; er hatte nie den Wunsch geäußert, sie kennenzulernen
– oder auch nur zu sehen. Zugegeben, seine Neugier in bezug auf seinen Vater hatte
bis Mitte Dreißig angehalten, aber in letzter Zeit schien er sich damit abgefunden
zu haben, daß er ihn nie kennenlernen würde. Mit Resignation hatte das nichts zu
tun, eher mit einer gewissen Abstumpfung.
    Mit seinen neununddreißig
Jahren hatte sich John D. einfach daran gewöhnt, daß er Vater und Mutter nicht kannte.
Aber wer würde seinen eigenen Zwillingsbruder nicht kennenlernen oder wenigstens
einmal sehen wollen? Warum stellte er

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