Zirkusluft
als hätte ihm jemand das rechte Bein abgetrennt. Bei vollem Bewusstsein. Er schlug hart auf dem Teppich auf, versuchte, sich an der Türklinke hochzuziehen, dann explodierte sein linkes Bein. Der gleiche Schmerz.
Wimmernd sackte er zusammen, während der Schütze sich erhob und langsam auf ihn zukam.
Topuz wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Als ihm mit unausweichlicher Sicherheit klar wurde, dass er in den nächsten Sekunden sterben würde, war in seinem Kopf nur noch Platz für einen letzten Gedanken an seinen Sohn Hassan, der ein Zimmer weiter im Bett lag und schlief.
11
Martin Franck unterdrückte einen vom Pulverdampf ausgelösten Hustenreiz, stand langsam auf und betrachtete den sterbenden Bülent Topuz , dessen Körper die Tür zum Flur blockierte. Mit geschickten Fingern schraubte er den Schalldämpfer von der Pistole in seiner Hand, ließ das klobige Metallteil in seinen Rucksack fallen, der neben der Tür stand, und steckte die Waffe in das Holster unterhalb der Achselhöhle. Dann bugsierte er Topuz aus dem Weg, zog einen Kunststoffkeil, den er zuvor zwischen der Unterkante der Tür und dem Boden eingeklemmt hatte, heraus, und trat auf den Flur. Dort atmete er tief durch und lauschte. Bis auf die Kakofonie des Verkehrs der nahen Friedrich-Ebert-Straße hörte er nichts Beunruhigendes. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er sich um, ging zurück ins Wohnzimmer, griff in den Rucksack und zog eine kleine LED-Taschenlampe heraus, mit deren Hilfe er Topuz ’ Pupillenreaktion überprüfte. Zu seiner Zufriedenheit stellte er fest, dass es nichts festzustellen gab. Der Mann war tot.
Die Taschenlampe landete wieder im Rucksack, aus dem er nun einen kleinen Wasserzerstäuber für Blumen holte und den Bereich des Bodens, auf dem er den Anfall vorgetäuscht hatte, komplett einnebelte. Essigsaurer Geruch machte sich breit. Franck blinzelte und steckte die Flasche zurück. Anschließend beugte er sich nach unten, sammelte jede einzelne der Patronenhülsen auf, die Topuz auf ihn verfeuert hatte, und warf sie in den Rucksack. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck griff er nach der Waffe, ließ das Magazin herausspringen, entlud den Schuss, der im Patronenlager steckte, und ließ auch diese Utensilien im Rucksack verschwinden. Als Nächstes öffnete er den Reißverschluss einer äußeren Tasche des Gepäckbeutels, entnahm ein Magazin, führte es ein, zog den Schlitten zurück und machte die Waffe damit wieder schussbereit.
Für einen Moment hielt er inne und lauschte auf ein Geräusch aus dem Hausflur, das jedoch sofort wieder verstummte. 20 Sekunden später verließ er das Wohnzimmer, betrat das danebenliegende Schlafzimmer, stellte sich vor das kleine Kinderbett, in dem Hassan Topuz schlief, und betrachtete den Jungen für ein paar Augenblicke. Dann ging er zu Topuz ’ Schreibtisch, wo der Computer noch immer lief, und steckte die Pistole in die unterste Schublade des Bürocontainers. Kurze Zeit danach hatte er ein Schreiben verfasst und ausgedruckt, das er neben der Waffe deponierte.
12
Wilhelm Vogt brachte den Wahlhebel der Automatik in die Stellung P, drehte den Zündschlüssel um und zog ihn ab. Walther Olms , sein Chauffeur und Faktotum, stieg auf der Beifahrerseite der schweren Limousine aus, hob den Rollstuhl aus dem Kofferraum und befestigte die Fußstützen an der Spezialanfertigung aus einer sündhaft teuren Titanlegierung.
»Es ist gut, Olms «, informierte Vogt seinen Mitarbeiter, als er im Rollstuhl saß. »Ich brauche Sie im Moment nicht mehr. Bitte warten Sie am Empfang auf mich.«
Dann beschleunigte er sein Gefährt und rollte auf den Haupteingang des Unternehmens zu, das er vor 42 Jahren, im Alter von 25, gegründet hatte.
Damals war nicht zu erwarten gewesen, dass er einmal 450 Mitarbeiter beschäftigen und 800 Millionen Euro Umsatz machen würde. Angefangen hatte für den leidenschaftlichen Ingenieur alles in einer kleinen Halle, in der er Alarmanlagen und seine selbst konstruierten Überwachungskameras zusammenschraubte, die schon zu dieser Zeit nur halb so groß wie die Geräte der Wettbewerber waren. Und früher als andere hatte er das Potenzial der Halbleitertechnik erkannt und seine Produktion darauf umgestellt. Mit den Jahren kamen weitere Produktzweige hinzu. So war Vogt einer der Ersten in der Republik, der elektronische Fluchttürsteuerungen im Angebot hatte. Als sein Unternehmen 1982 den Auftrag für die komplette Neubestückung aller Bundeswehrkasernen mit
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