Zitadelle des Wächters
hatte schwache Knochen, verkniffene Züge und eine Glatze. Aber seine Augen zeigten eine Spur verbliebener Freundlichkeit.
Sie trank mit ihm und ließ sich von seinen knochigen Fingern berühren und streicheln. Sie zwang sich, ihn zu umarmen, seinen Nacken zu kraulen und über seine plumpen Versuche, witzig zu wirken, zu lachen. Als er offensichtlich sein Quantum beim Wein erreicht hatte, bat sie ihn, er möge sie mit aufs Deck nehmen, wo sie einen Blick auf die majestätischen Lichter Eleusynnias unter einem Viertelmond werfen konnte. Der Mann sah Tessa merkwürdig an, aber möglicherweise besaß er selbst so etwas wie eine romantische Ader, denn er nickte und lachte, als er sie nicht allzu grob aus der miefigen Kabine führte.
Tessa hatte noch nie zuvor einen Menschen getötet. Und bei diesem hier war es besonders schwierig, weil er der netteste Mann war, den sie je kennengelernt hatte. Als er sie am Schandeckel in die Arme nahm und seine dünnen Lippen auf die ihren preßte, ließ Tessa ihre Finger suchend über sein Kreuz fahren, bis sie den Gürtel fanden. Dort spürte sie den Griff seines Messers. Die Waffe fühlte sich hart und glatt an. Tessa wußte, daß sie jetzt schnell und zielbewußt handeln mußte.
Während sie ihren Körper mit seinem verhakte, stöhnte sie laut auf, als sie das Messer aus der Scheide zog. Und sofort stieß sie die Waffe zwischen die unteren Rippen des Mannes. Er verkrampfte sich und schrie laut auf, als sie die Waffe durch seinen Leib stach. Etwas Dunkles quoll über seine Lippen, und in seine Augen trat ein glasiger Blick, sie sahen nichts mehr. Plötzlich ertönte ein Geräusch. Stiefel krachten auf die Planken und kamen näher. Tessa starrte erst auf die zusammengesunkene Gestalt zu ihren Füßen, dann auf die näher kommenden Gestalten auf dem Deck und schließlich auf die schimmernde, ölige Oberfläche des Wassers, das träge gegen die Außenhülle des Schiffes platschte.
Ohne nachzudenken sprang sie über die Reling und spürte einen Lufthauch und den erfrischenden Stoß von etwas, das bedeutend kälter war als sie angenommen hatte. Ihre Kleider saugten sich sofort mit Wasser voll, zogen Tessa hinunter und zwangen sie, wie in einem Sumpf zu ringen. Kurz vor der Panik, schwamm sie vom Schiff fort. Sie hörte die rauhen Stimmen von Männern, die nach ihr in der Dunkelheit suchten. Plötzlich zog ein Lichtsignal in einem hohen und anmutigen Bogen über den Hafen und wies ihr den Weg zum nächsten Kai, zeigte aber der Nachtwache von der Silbermädchen zugleich auch ihre Position.
Die Schußwaffen der Männer entluden sich stotternd und krachend, und um Tessa herum klatschte es im Wasser. Einmal versuchte sie unterzutauchen, hielt den Atem an und täuschte so einen Treffer vor. Aber als sie schließlich wieder auftauchen mußte, entlud sich ein neuer Hagel von Geschossen. Im Hintergrund krachten Bootskräne, und Tessa hörte, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Falls sie den Kai nicht rechtzeitig erreichte, würden die Männer im Boot sich ihrer annehmen, und der Tod wäre Tessas einzige Erlösung. Irgendwie schien es ihr ungerecht, wenn jetzt alles schiefging, wo sie schon so weit gekommen war.
Der hölzerne Kai schien näher heranzurücken, aber sie war sich nicht völlig sicher. Die Leuchtkugel war erloschen, und eine zweite schoß hoch über ihr hinweg und verbreitete einen schrecklichen orangefarbenen Schein über der Szene. Das Langboot klatschte ins Wasser, und Tessa hörte die ärgerlichen Rufe der Männer, als sie sich in die Riemen legten.
Plötzlich ergriff eine Hand Tessas Arm, eine starke Hand, die sanft, aber mit der Kraft eines Schraubstocks zupackte. In einer einzigen Bewegung wurde Tessa aus dem Wasser gezogen. Sie glitt hoch
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