Zitadelle des Wächters
wie eine Ballettänzerin und rutschte über den Rand des Kais. Es war ein großer Mann mit sandfarbenem Haar und hellen, blauen Augen – diese Farben ließen sich trotz der mäßigen Beleuchtung der Leuchtkugeln ganz deutlich erkennen –, der die Uniform eines Seemanns der Handelsmarine trug. Als er sie mit der linken Hand auf die Füße hochzog, zückte er mit der anderen eine langläufige Pistole.
„Sei still“, sagte er, „und lauf weiter.“
Während sie sich von der Kaimauer entfernte, beobachtete Tessa, wie der Mann ruhig die Pistole auf das sich nähernde Boot anlegte und feuerte. Der Mann am Bug krachte über Bord, seine ganze Stirn war weggeschossen worden. Der Rest der Bootsbesatzung griff zu den Waffen und schoß wild um sich. Im Umdrehen ergriff ihr Retter wieder Tessas Arm und rannte die Docks hinunter auf die nächsten Straßen zu. Beide bogen um eine Ecke, den Lichtern einer Taverne entgegen.
Doch bevor sie diese erreichen konnten, kam das übriggebliebene Trio aus dem Langboot um die Ecke gerannt. Der Mann drückte Tessa in einen Hauseingang und wandte sich dann den dreien zu. Er sandte ihnen eine neue Ladung aus seiner großen Pistole entgegen.
Ein zweiter Seemann, jener mit der Kleinkaliber-Pistole, fiel. Bevor das verbliebene Duo sich überhaupt rühren konnte, stürmte Tessas Retter auf die beiden los und warf sich auf sie. Er ließ seine Pistole fallen und bediente sich lieber seines Kurzschwerts. Damit hantierte er so gewandt und flink, daß den beiden Männern keine Möglichkeit blieb, sich dagegen zu wehren.
Zwei rasche Hiebe mit der Klinge – mehr brauchte er nicht für seine Arbeit. Varian blieb einen Moment zwischen den niedergemachten Seeleuten stehen, um sicherzugehen, daß er bei keinem die Waffe ein zweites Mal einsetzen mußte. Dann wandte er sich dem Hauseingang zu, in dem Tessa sich zusammengekauert hatte.
„Wir müssen weg von dieser Straße“, sagte er. „Komm.“
Sie drängten sich in die Schatten einer Parallelstraße. Tessa bemerkte, daß der Mann ohne Zögern voranging, woraus sie schloß, daß er sich in diesen engen Alleen und schattigen Straßen bestens auskennen mußte.
Nach drei Häuserblocks hielt er Tessa an. „Du triefst immer noch vor Nässe. Kannst du irgendwo deine Kleider wechseln?“
Tessa konnte nur den Kopf schütteln, denn vor Erschöpfung brachte sie keinen Ton heraus.
Der Mann lächelte. „Nun gut, falls du noch weiter mit mir kommen willst, dann bringe ich dich zu einer Freundin, die uns vielleicht helfen kann.“
Eine Stunde später saß Tessa an einem wärmenden Ofen und trug die trockenen, sauberen Sachen einer Frau namens Alcessa. Diese war sehr dick und voller Sommersprossen, und die blauen Augen waren irgendwo in die Falten ihres Gesichts eingedrückt. Aber sie lief unglaublich leichtfüßig herum und behandelte Tessa wie eine zurückgekehrte Tochter. Sie schien sich aufrichtig um Tessas Wohlergehen zu kümmern. Der Mann hatte sie zu Alcessas Pension gebracht, einem baufälligen Reihenhaus in einer Seitenstraße, nahe den Docks gelegen. Die alte Frau hatte ihn mit Herzenswärme und mütterlicher Zuneigung begrüßt.
„Na, wie fühlst du dich jetzt? Besser, hoffe ich.“ Alcessa saß in einem schweren Sessel und trank aus einer großen Tasse heißen Tee.
Tessa nickte und trank aus ihrer Tasse. Der Raum war angefüllt mit den Farben der Erde, die Lampen erleuchteten einen sicher und warm wirkenden Ort. „Ja, vielen Dank. Dir und … Varian.“
Alcessa lächelte beim Klang des Namens dieses Mannes. „Ja, natürlich, Varian.“
„Kennst du ihn schon lange?“
„Wie einen Sohn. Ich habe ihn zum erstenmal kennengelernt, als er noch keine zwanzig war. Damals war
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