Zitadelle des Wächters
jeden Hafen am Aridard und war fortwährend von Mannschaften aus rauhen, erfahrenen Seeleuten umgeben gewesen.
Aber als genauso wahr konnte gelten, daß Varian sich in der Menge einsam fühlte.
Er hatte nie die Zeit und die Mühe auf sich genommen, seine Kameraden näher kennenzulernen, in all den Jahren nicht. Der einzige Freund, den Varian je gehabt hatte, war der alte Furioso gewesen, und diese Beziehung war eher aus einer Unvermeidlichkeit erwachsen als aus einem echten Bedürfnis. Varian und der alte Mann hatten sich mit der Zeit einfach an die Gesellschaft des anderen gewöhnt.
Die Frauen kamen in Varians Leben nur als eine endlose Reihe von kurzen Verbindungen vor. Ihre Gesichter und ihre Körper existierten in Varians Erinnerung nur noch als blasse Gebilde, und er konnte sich gerade noch an den einen oder anderen Namen erinnern. Nicht etwa, daß Varian die Frauen nur benutzt hätte – jedenfalls war ihm das nicht bewußt geworden –, vielmehr schienen sie ihn benutzt zu haben. Nie war in diesen Verbindungen das Wort Liebe gefallen (außer in der schwitzigen, triebhaften, nächtlichen Begierde, „es“ zu machen), bei keiner der Frauen. Immer war es so gewesen, daß beide, sowohl die Frauen als auch Varian, gewußt zu haben schienen, daß sie bald auf verschiedenen Schiffen weitersegeln und sich wahrscheinlich nie wiedersehen würden.
Wenn Varian sich die Zeit nahm, an diese Beziehungen zurückzudenken, konnte er sie deshalb immer rational erklären: Er hatte eben einfach nie die erforderliche Zeit opfern können, um jemanden wirklich kennenzulernen – ihm war es wichtiger, die Zeit erst einmal damit zu verbringen, sich selbst kennenzulernen.
Aber bei Tessa war alles – anders? – ja, genau, anders. Zwei Tage verbrachte er mit ihr in Eleusynnia. Zwei volle Tage, jede Stunde jeden Tages. Und jeder Nacht. Trotzdem fehlte dabei die vertraute Begierde, das Anschwellen der körperlichen Lust, die regelmäßig den Verstand zu überdecken schien. Und es fehlte die unausgesprochene Zustimmung von beiden Seiten, im Dunkeln nur die körperlichen Teile rasch zu vereinen und die Seelen abseits stehen zu lassen.
Nein, mit Tessa konnte Varian sich über sehr viele Dinge unterhalten. Er fragte sie über sich, er erzählte von seinem eigenen Leben, und er wollte das ihrige kennenlernen. Sie kamen aufeinander zu, nahmen aneinander teil – sowohl geistig als auch körperlich –, und Varian wurde es immer klarer, daß mit Tessa alles anders war. Vielleicht, so lautete sein erster Gedanke, wurde er tatsächlich „reifer“, wie Leute ihm das schon oft prophezeit hatten. Vielleicht hatte er sich mittlerweile aber auch mit der Persönlichkeit akklimatisiert, die er an und in sich entdeckt hatte. Möglicherweise war es aber auch etwas ganz anderes und er spürte, daß er sich einem Wendepunkt in seinem Leben näherte, einem Schlüsselerlebnis, dem entscheidenden Moment, in dem all die Dinge, auf die er sich unterbewußt vorbereitet hatte, zum Greifen nahe vor ihm lagen …
Varian wußte darauf keine Antwort, aber er rief sich eine Bemerkung Furiosos zu diesem Problem ins Gedächtnis. Der Waffenmeister glaubte daran, daß jeder Mensch zu einem bestimmten Zweck auf der Welt sei. Einige entdeckten diesen Zweck früher, andere später. Aber dieser Punkt sei erreicht, wenn alles klar, scharf und wie in einem Fokus vor einem läge – dann wisse man, es sei soweit. Die Zeit des Wechsels und des Handelns sei gekommen.
Seit dem Moment, als Varian mit Kartaphilos gesprochen hatte, spürte Varian, daß sein Leben sich veränderte. Er wußte bereits, daß es ihm nicht länger ausreichte, sein Leben als gewöhnlicher Seemann zu beschließen. Die Welt hatte mehr anzubieten, als Segel zu raffen und salzige Meeresluft zu schmecken. Soviel hatte Varian bereits begriffen.
Und dann gab es da noch Tessa. Auf merkwürdige Weise eine Schönheit. Unschuldig und naiv, aber auch mit einer gewissen erdgebundenen Weisheit. Irgendwie konnte sie ihn innerlich so sehr bewegen, wie das noch keine Frau zuvor vermocht hatte. Sie konnte in ihn hineinreichen und dort etwas entzünden, das lange Zeit erloschen geruht hatte. Ein Blick ihrer dunklen Augen reichte dazu aus, ein Streicheln ihrer sanften Finger auf seinen Wangen oder ein einziges Wort. Diese Gesten reichten Varian aus, Tessa so zu sehen, wie sie vielleicht einmal für ihn werden könnte.
Varian bemerkte dies alles, während sie beide die zwei Tage in der Stadt des Lichts verbrachten,
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