Zitadelle des Wächters
und er baute darauf seine Träume auf, wenn sie in der dunklen Stille der Nacht neben ihm lag und schlief.
Varian nahm nicht für sich in Anspruch, von der Liebe etwas zu verstehen. Aber in seinem Innern erwachte etwas zum Leben, und er machte sich Gedanken darüber, was aus diesem Etwas erwachsen könnte. Tessa von Prend – etwas Besonderes ging von dieser Frau aus, da war er sich ganz sicher. Eine Besonderheit, über die er sich im klaren war, sie erst kurz gekostet zu haben. In ihrer Person gab es Schichten, die er freilegen könnte, wie sie ihm andeutete, und zwar nur er. Und Varian war daran sehr interessiert.
Aber wenn Varian tiefgehender und ehrlicher sich selbst gegenüber an Tessa dachte, wußte er, daß er mehr als bloßes Interesse verspürte. Er mochte sie. Er mochte sie sehr – und die Dinge, die sie gemeinsam tun konnten.
Der beiden Tage vergingen wie im Flug, und Varian wollte, daß sie nie endeten. Am Ende der zwei Tage gab Tessa ihre Entscheidung bekannt.
Und Varian war sehr glücklich darüber.
Drei
Es machte keine Schwierigkeiten, Tessa auf der Courtesan unterzubringen. Sowohl der Kapitän als auch der Steuermann freuten sich, als Varian ihnen Tessa vorstellte. Von da an war alles andere nur noch ein „Kinderspiel“. Sie übernahm ihren Platz in der gut ausgestatteten Kombüse, wo sie mit einem kleinwüchsigen, buckligen Koch namens Farle zusammen arbeitete. Der zauberte wahre Wunder aus dem beschränkten Angebot der Schiffsvorräte. Eine wohlgenährte Mannschaft ist eine zufriedene Mannschaft – eine ganz und gar grundlegende Lebensweisheit.
Die Reise nach Westen brachte Tessa viele neue Erkenntnisse, und sie verbrachte viele Stunden zusammen mit Varian auf dem Deck. D›ort lernte sie viel über die Kunst, ein Handelsschiff zu steuern. Aber wenn Varian auf Freiwache war, verbrachte er die meiste Zeit allein. Nicht etwa, daß er Tessa bewußt ignorierte – er hielt sie für ausgesprochen attraktiv, intelligent und sie gab ihm viel –, aber zugleich wuchs sein Interesse an einer Kiste voller Texte und Manuskripte, die er aus Eleusynnia mit an Bord genommen hatte.
Jede Nacht saß er in seiner Kajüte und suchte nach irgendwelchen Verbindungsstücken, die die losen Enden von Kartaphilos Geschichte zusammenführen konnten. Es gab so viele Orte, an denen Sand lag, und so wenige Hinweise auf die Riken oder die Genonesen. Die Erste Zeit schien eine Welt zu sein, die von Legenden, Märchen und offensichtlich falschen Darstellungen überschwemmt war. Irgendwo im Lauf der Entwicklung war der Beruf des Historikers zu dem eines Märchenerzählers verdreht worden, eines Unterhaltungskünstlers, der die Menschen beim Schein des Lagerfeuers die Kälte der Nacht vergessen ließ.
Er grübelte darüber nach, Tessa in seine Suche einzuweihen und sie daran teilhaben zu lassen. Keineswegs mißtraute er ihr, aber er fürchtete, sie würde ihm keinen Glauben schenken. Offensichtlich verstand sie ohnehin nicht sein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, wenn er seine Freiwache hatte. Und Varian stellte sich vor, daß sie sich sicher fragte, warum er sie nicht mehr beachtete, sich nicht mehr um sie kümmerte.
Aber da gab es noch viele andere Dinge, die ihre Gedanken beschäftigten und anregten. Die Fahrt durch die Straße von Nsin war so mysteriös und von Nebel begleitet wie immer. Und Tessa war ganz hingerissen von den sich hoch auftürmenden weißen Klippen am südlichen Ufer der Straße, wo die großen Kanonen von Kell immer noch undeutlich als Überbleibsel der Macht der Vergangenheit aufragten … Die Lichter des Voluspa-Leuchtturms direkt vor der Küste der Philosophenstadt führten die Courtesan sicher ins offene Wasser, wo man anhand der Karten und Meßinstrumente weitersegelte, bis die Küstenlinie der Insel Gnarra gesichtet wurde. Tessa wollte gern die Hafenstadt Cybele besichtigen und die dort lebende Bevölkerung kennenlernen, die sich, wie sie gehört hatte, aus Hexern zusammensetzen sollte. Varian amüsierte sich darüber. Tessa sah Cybele als eine Stadt an, in deren Straßen Magier und Zauberer wie Ratten in einer Wirtshauskanalisation herumtollten.
Außerdem hatte eine kurze Begegnung mit einer Seeräuber-Bande aus Behistar stattgefunden – eine kleine, aber schnelle Fregatte, die die Stärke der Courtesan- Kanonenausprobieren wollte. Das war auch der letzte Angriff des kleinen schwarzen Schiffes gewesen.
Jetzt näherte man sich dem Hafen von Ques’Ryad. Die Stadt verfügte über
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