Zitadelle des Wächters
eine doppelt so große Hafenanlage wie alle anderen Städte am Aridard und war ein wucherndes Zentrum des Handels, des Abenteuers und der kulturellen Begegnung. Der Hafen war von Schiffen aller Art überfüllt. Die Flaggen fast aller Nationen knatterten in der Meeresbrise. Die Docks waren überschwemmt von Menschen und exotischen Frachten aus allen Gegenden der Welt: gedörrtes Fleisch aus Shudrapur, Häute und Felle von den Trappern aus dem Gebiet nördlich des Scorpinnianischen Kaiserreiches, Diamanten aus den Minen von Kahisma, Wandteppiche und Töpferwaren aus Asir, Musikinstrumente aus Sanda, Eisenholz von den Kirchowwäldern und Glasskulpturen aus dem Schlackenland. Die Reichtümer der Welt flossen und wirbelten wie Wasser zwischen den Kais und Piers herum, wurden ein- und ausgeladen und wechselten von einem Schiff zum nächsten. Ques’Ryad war der Knotenpunkt, der Umschlagplatz, an dem alle Gegenstände und alle Menschen schließlich zusammenzuströmen schienen.
An diesem Abend, ihrem ersten Abend in dieser Hafenstadt, war Tessa von der Idee gefesselt, den Ort zu besichtigen. Varian begleitete sie durch die gewundenen Straßen, die langen Boulevards entlang und durch die geräumigen Parks und Gartenanlagen. Diese wurden von den Kirchtürmen und Obelisken der Stadt umgeben. Tempel und Museen, Monumente und andere Gebäude von hohem Alter tauchten überall auf. Die Luft war angefüllt vom Sprachgewirr der Menschen aller nur denkbaren Hautfarben, Größen und Glaubensrichtungen, vermischt mit dem Duft von gerösteten Nüssen, gebratenem Fleisch, Blumen und Flüssigkeiten.
Als die Stunde der Mitternacht kam, fühlte sich selbst Varian von all dem erschöpft, und er bat Tessa um eine kurze Pause, um zwecks eines weichen Stuhls und einer wärmenden Tasse Kaffee mit Rum eine Taverne aufsuchen zu können. Tessa lächelte und stimmte ihm zu, als Varian plötzlich auf eine bekannte Kneipe zusteuerte, die in einer Seitenstraße lag, abseits der ausgetretenen Wege der Hauptstraßen und Verkehrsrouten. An der Kreuzung von zwei kleinen, sich windenden Gassen, umgeben von mehreren Geschäften, gab es eine Gaststätte namens Der Weiße Donzell. Das Lokal war mit einem großen, beweglichen Schild geschmückt, auf dem eines dieser wunderbaren gehörnten Wesen unter den Buchstaben abgebildet war.
Innen waren auf einer großen Fläche lange Eichenholztische in geraden Reihen aufgestellt. Die Wände bestanden aus gelben Steinen, die von braunen Balken zusammengehalten wurden. Daran hingen Wandteppiche und Bilder aus allen Ländern und Zeiten. Staub und Teer von den aufwallenden Tabakwolken bedeckten in einer feinen Schicht den ganzen Raum und verliehen ihm ein mildes, belebtes Flair. Auf dem Boden lag eine Schicht Sägespäne, so dick wie das Moos eines schattigen Waldes. Musik ertönte von einem hoch über allem gelegenen Stockwerk, wo eine kleine Kapelle auf Streichinstrumenten spielte. Und natürlich befand sich dort eine riesige Theke, wo drei Barkeeper keinen Moment Ruhe fanden. Hunderte von Männern und Frauen hielten sich hier auf und tranken, lachten, rauchten, lebten eben.
Varian und Tessa traten ein. Beide trugen die allgemein bekannte Kluft von Handelsseefahrern. Niemand brachte ihrem Eintritt übermäßiges Interesse entgegen. Sie steuerten, ohne von jemandem aufgehalten zu werden, auf einen Tisch zu, neben dem sich eine größere Anzahl von Menschen aufhielt. Die Menge lauschte atemlos einem großen, lautstarken Mann in einem Mantel aus silbergrauem Pelz.
„Ist ja großartig hier!“ sagte Tessa. „So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.“
Varian sah sie an. Sie war ganz außer sich vor Staunen und Bewunderung – Bewunderung für all das Bezaubernde in dieser Welt. Tessa konnte sich wie ein Kind darüber freuen, und Varian bemerkte, daß er diesen Zug an ihr besonders mochte.
Sie besprachen den ganzen Tag in Ques’Ryad. Manchmal mußten sie fast schreien, um die Musik, die Lachsalven und die Scherze der Leute am Nebentisch zu übertönen. Nach einer kurzen Weile fiel Varian auf, daß er der rauhen, hochtönenden Stimme des alten Mannes im Pelz mehr Aufmerksamkeit schenkte als Tessa und ihrer nicht enden wollenden Begeisterung über Ques’Ryad.
Varian wollte Tessa nicht verletzen und bemühte sich daher darum, ihr Interesse ebenfalls auf den Nebentisch zu lenken. „Guck dir mal den an“, sagte er und zeigte auf den alten Mann.
„Das ist vielleicht ein Unikum, was?“ sagte Tessa lachend.
Der Mann
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