Zitadelle des Wächters
Eleusynnia zu bleiben, aber ich wußte nicht, ob Alcessa mich hier haben wollte. Du mußt wissen, daß ich keinen Pfennig Geld besitze. Ich habe gar nichts.“
Alcessa zuckte die Achseln, und Varian winkte ab. „Ich kann dir alles bezahlen, bis du auf eigenen Füßen stehst. Du kannst aber auch mit mir kommen …“
Tessa richtete sich kerzengerade in ihrem Stuhl auf. Das blieb Varian natürlich nicht verborgen. „Stimmt irgendwas nicht?“ fragte er.
„Nichts. Tut mir leid. Gar nichts.“ Einen Moment wandte sie ihren Blick ab. „Warum sollte ich mit dir gehen?“
„Du mußt nur mitkommen, wenn du das wirklich willst. Ich fahre als nächstes nach Ques’Ryad. Das ist eine relativ bedeutende Stadt, und vielleicht hast du Lust, sie einmal kennenzulernen. Und danach könntest du ein bißchen mehr von der Welt sehen, bevor du dich entscheidest, wo du bleiben möchtest. Was willst du also tun?“
Tessa suchte die Augen dieses merkwürdigen Mannes, bevor sie antwortete. Ganz offensichtlich hatte Varian alles ernst gemeint. Er kannte keinen Betrug, das konnte Tessa spüren. Varian war wirklich ehrlich an ihrem Wohlergehen interessiert. Und natürlich schuldete sie ihm jetzt ihr Leben, wieviel auch immer das noch wert sein mochte.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie bedächtig. „Wie soll das denn vor sich gehen, mit dir zu segeln?“
„Noch nie gab es eine Crew, die die Anwesenheit einer schönen Frau an Bord nicht begrüßt hätte“, sagte Varian lächelnd. „Und verstehe mich da nicht falsch. Dir wird kein Haar gekrümmt werden … Dafür werde ich schon sorgen.“
Alcessa lachte laut. „Da kannst du ganz unbesorgt sein, mein Fräulein. Niemand legt sich mit Varian Hamer an.“
Varian wurde verlegen. Aber er machte keine Anstalten, die Prahlerei der alten Frau abzumildern.
„Ich weiß es nicht“, sagte Tessa wieder. „Darüber muß ich erst noch nachdenken. Wie lange bleibst du denn noch in Eleusynnia?“
„In zwei Tagen segeln wir ab.“
„Dann werde ich mich zu diesem Zeitpunkt entscheiden, das verspreche ich dir.“
An den beiden nächsten Tagen führte Varian Tessa durch die berühmte Stadt des Lichts. Da gab es Volksfeste auf vielen Plätzen, Avenuen voller Basare und Musikanten, Wettkämpfe und Ausstellungen. Daneben boten sich Museen und Galerien, Sportveranstaltungen und mannigfaltige architektonische Sehenswürdigkeiten an, die nur auf die Entdeckung und Bewunderung der beiden warteten. Varian erzählte von der großen kulturellen und aufgeklärten Tradition der Stadt. Tessa bemerkte, daß er sich wie ein sehr gebildeter Mensch auszudrücken verstand und nicht etwa nur im rauhen und groben Slang der gewöhnlichen Seefahrer. Dieser Mann war wirklich ein Rätsel. Tessa hatte noch nie zuvor jemanden kennengelernt, der ihm gleichkam. Obwohl die zwei Tage wie in einem Augenblick zu vergehen schienen, blieb ihr das nicht verborgen. Ihre Erinnerungen an diese Zeit in Eleusynnia bestanden nur aus einer Montage aus Farben, Bildern und Geräuschen: die lyrische Musik des Orchesters im Großen Park, das Gepränge und das Kolorit des Sor-Theaters, wo die Moralstücke aus der Ersten Zeit mit der größtmöglichen Authentizität aufgeführt wurden, die untergehende Sonne, die mit ihren letzten Lichtstrahlen den weißen Sand der Strände in der Unterstadt umspielte, und das sanfte Brechen der Wellen des G’rdellianischen Meers. Tessa ließ alle diese Eindrücke auf sich wirken, und sie verliebte sich in diese zauberhafte Stadt am Meer. Sie konnte es sich kaum vorstellen, diesen Ort jemals freiwillig zu verlassen. Aber in ihr steckte noch ein anderer Teil ihres Wesens, der sich mehr auf den Mann konzentrierte, der ihr all diese Wunder und prachtvollen Dinge nahebrachte. Der Gedanke daran, ihn zu verlieren, war ihr so unangenehm, daß er ihr schon fast wieder gefährlich wurde. Eine große Welt wartete darauf, von Tessa gesehen, gefühlt, geschmeckt und gerochen zu werden. Das wollte sie keinesfalls allein tun, denn sie war eine so entsetzlich lange Zeit allein gewesen.
Andere Gefühle strömten in Varians Bewußtsein. Auch er war lange Zeit allein gewesen, aber in einem anderen Sinn, als dies für Tessa galt. Varian hatte sich aus freien Stücken zu einem Leben in Einsamkeit entschlossen. Anscheinend brauchte er die Freiheit, für andere die Verantwortung zu tragen, damit er mehr über sich selbst erfahren konnte. Natürlich war er bereits auf jedem bekannten Schiffstyp gefahren, kannte
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