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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Kind, liebst du ihn? Aber all diese Fragen, die sie wirklichinteressierten, stellte sie nicht, weil sie zu persönlich waren und weil Mirabella sie ohnehin nicht beantwortet hätte. Stattdessen fragte sie etwas anderes, etwas völlig Verkehrtes, das wurde ihr aber erst bewusst, nachdem sie die Frage bereits ausgesprochen hatte.
    »Bist du denn nun auch eine von diesen politischen Fanatikern?«
    Mirabellas Gesicht, das immer verschlossen war, wurde zu einer kalten, glatten Maske. »Wenn du es so nennen willst«, sagte sie kurz.
    Rufus kroch ein bisschen näher an Maria heran und legte seine kleine schwarze Schnauze auf ihre Lacksandale. Auf dem sonnengrellen Weg schob eine junge Frau einen Kinderwagen vorbei, die hohen Räder quietschten leise, als stöhnten sie unter der Julihitze. Die Frau hatte ihre Augen auf das Kind gerichtet, das schlief oder ihren Blick erwiderte, man konnte es nicht sehen. So nah waren wir uns einst, und jetzt sind wir uns so fern, dachte Maria.
    Später aßen sie den Streuselkuchen, den Mirabella aus der Rheinterrasse mitgebracht hatte. Maria erzählte von ihrer Schmuckproduktion, und Mirabella tat, als ob sie zuhörte. »Wer macht eigentlich die Entwürfe für die Schmuckstücke?«, unterbrach sie Maria, als diese gerade von dem neuen großen Auftrag von Tietz berichtete.
    »Ich denke mir die Sachen aus und mitunter auch Hilde«, meinte Maria irritiert. »Warum fragst du?«
    »Ich könnte dir jemanden vermitteln, der dir das abnimmt. Einen Künstler.«
    »Einen Künstler«, wiederholte Maria skeptisch. »Ich weiß nicht. Meine Auftraggeber haben ganz konkrete Vorstellungen, da gibt es nicht eben viel künstlerischen Freiraum. Eine Kette hat so und so auszusehen, und eine Brosche darf im Einkauf nicht mehr als fünfunddreißig Pfennige kosten. Nein, ich brauche keinen Künstler. Ich suche aber noch jemanden für die Produktion, ein Mädchen mit geschickten Fingern, das sich mit den anderen beiden versteht. Kennst du niemanden?«
    Hinterher, als Mirabella schon gegangen war, ärgerte sich Maria über sich selbst. Sie wusste so wenig von Mirabella, im Grunde kannte sie ihre Tochter gar nicht. Ich hätte mir den Künstler doch einmal anschauen können, dachte sie. Aber wenn Mirabella ihn empfahl, musste man davon ausgehen, dass der Mann Kommunist war, vermutlich entwarf er stahlgraue Schmuckstücke im Proletarierstil, die keiner haben wollte. Und außerdem, dachte Maria, hätte es ohnehin nichts geändert.

III.
    In Karlsruhe hatte sie rasch Arbeit in einer Munitionsfabrik gefunden. Die Männer waren im Krieg, also mussten die Frauen ihre Plätze an den Werkbänken und Maschinen einnehmen. Irgendjemand musste schließlich die Waffen produzieren, mit denen die Männer sich dann gegenseitig totschossen. Vom Sommer 1915 bis zum Herbst 1918 stand Maria an einem Fließband und steckte Geschosshülsen ineinander. Sie setzte einen großen Ring in eine kleine Kapsel, eine Vierteldrehung nach rechts, dann wurde das Ganze mit der Öffnung nach oben auf einen Stift gesteckt und von der nächsten Maschine verschluckt. Eins, zwei, steck, dreh, eins, zwei, steck, dreh, so ging es den ganzen Tag. Die eine Woche hatte sie Frühschicht von fünf bis um zwei, in der nächsten Spätschicht von zwei bis um elf. Sie steckte 72 Geschosshülsen in der Stunde zusammen, das machte 648 am Tag, 3888 in der Woche und 15552 im Monat. Wenn jedes zehnte Geschoss sein Ziel traf, so fanden jeden Monat 1555 Männer den Tod durch Marias Hände.
    Das also ist aus mir geworden, dachte sie, während sie Hülse um Hülse zusammensteckte. Seherin, Geliebte, Mutter, Mörderin. Eins, zwei, steck, dreh.
    Ihre Gedanken flossen ruhig dahin, während die Geschosshülsen an ihr vorbeizogen. Sie dachte daran, dass der Krieg nun nicht mehr lange dauern könnte, angesichts der Masse der Geschosse, die sie in der Fabrik produzierten. Irgendwann ist auch der letzte Soldat tot, überlegte sie. Dann gibt es Frieden. Ob man ihr Mirabella wiedergeben würde, wenn der Krieg vorbei war? Sicher, ganz sicher, versuchte sie sich einzureden, aber dann erinnerte sie sich wieder an das Gesicht der Oberin, an ihren verschwommenen Blick hinter den Brillengläsern. Niemals, sagten die Augen. Sie dachte an Mirko und an ihre letzten Worte vor dem Waisenhaus.
Meinst du wirklich, dass ich
ausgerechnet auf dich angewiesen bin?
Wie er dagestanden hatte, klein und traurig. Sie schob Mirko weg und erinnerte sich stattdessen an Ludwig und Quirin, und langsam verschmolz

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