Zitronen im Mondschein
ja noch umtauschen können«, meinte Frau Anschütz vorwurfsvoll, als sie das Dirndl hinterher in einen Sack stopfte, für die armen Waisenkinder. Denn Herr und Frau Anschütz hielten viel auf Wohltätigkeit und christliche Tugenden.
Jeden Sonntag gingen sie in die katholische Maxkirche in der Altstadt, dort predigte ihr Beichtvater Pater Andreas. Zumindest hier benahm sich Mirabella einwandfrei, sie wusste nur zu gut, zu welcher Zeit man aufstehen und niederknien und sich bekreuzigen musste, und sie konnte alle lateinischen Wechselgebete auswendig.
»Da haben die Nonnen eine gute Arbeit geleistet«, sagte Herr Anschütz.
Aber bei Tisch! Da hatten die Nonnen offenbar gänzlich versagt. »Oder das Mädchen hat in all den Jahren nichts angenommen«, meinte Frau Anschütz. »Man kann es sich ja nicht vorstellen, dass man den Kindern in Heiligenbronn so gar keine Tischmanieren beibringt.«
Mira wusste nicht, dass man zum Fischessen kein Messer benutzt und dass auch Spargel nicht geschnitten werden und dass man sich den Mund nicht mit dem Handrücken, sondern mit einer Serviette abputzt. »All diese grundlegenden Dinge«, klagte Frau Anschütz, und Frau Hicken, die jeden Mittwoch zu Besuch kam, nickte betrübt.
Frau Hicken war Frau Anschütz’ beste Freundin. Ihr Mann war Brigadegeneral, sie wohnten am Ende der Königsallee und hatten zwei Kinder, einen dreijährigen Jungen, der Helmut hieß, und Agnes, ein entzückendes kleines Mädchen von einem halben Jahr. »Frau Hicken ist wirklich zu beneiden«, sagte Frau Anschütz. Denn Frau Hicken war ein ganzes Stück jünger als Frau Anschütz, die sich jahrzehntelang vergeblich Kinder gewünscht hatte, wie sie immer wieder erklärte. »Aber jetzt hat uns der Herrgott ja auch ein kleines Mädchen geschenkt«, meinte sie stolz.
Frau Hicken lächelte und nickte und blickte wohlgefällig auf ihre eigenen Kinder, die sie selbst geboren und nicht aus einem Waisenhaus geholt hatte. »Das ist doch ein Geschenk, über das man sich nicht genug freuen kann«, sagte sie und sah dabei Agnes an.
Mirabella knickste, dadurch geriet das silberne Tablett mit der Teekanne und dem Teller mit den Pralinés aus dem Gleichgewicht,beides rutschte erst langsam und dann immer schneller auf den Rand des Tabletts zu. Frau Anschütz riss den Mund auf und streckte beide Arme aus wie die Zappelphilippmutter im Bilderbuch, dann fielen die Kanne und der Teller und alle Pralinen auf den persischen Teppich im Salon. »Parderdauz!«, rief Helmut begeistert und sprang auf.
Die Pralinés wurden in den Abfall geworfen, obwohl Helmut sie gerne noch gegessen hätte, aber was einmal auf dem Boden lag, konnte nicht mehr angeboten werden. Stattdessen bestrich das Dienstmädchen Leibniz-Butterkekse mit Butter und Marmelade und servierte sie auf einem Glasteller. »Das ist doch fast genauso gut«, sagte Frau Hicken großzügig.
Das Dienstmädchen hieß Ruth, sie war gerade einmal drei Jahre älter als Mirabella, aber sie stellte sich in allen Dingen erheblich geschickter an. »Dat määt nix«, flüsterte sie Mirabella hinterher zu. »Dat krisse och noch hin.« Ganz so, als wäre Mirabella auch eine Hausangestellte wie sie.
Es war wie am Anfang in Heiligenbronn. Es gab einfach zu viele Dinge, die Mirabella hätte wissen müssen und die sie nicht wusste. Sie stolperte durch den Tag, von einem Fehltritt zum nächsten.
Da war das Wasserklosett, auf das Frau Anschütz so stolz war. Es war ein ganz neues Modell, eine Porzellanschüssel mit einer Spülung, die mit einem Höllenkaracho losging, wenn man sie betätigte, und alles mit sich riss. Diese gewaltige Wassermacht hätte sicherlich auch Mirabella mit sich gerissen, dünn und schmächtig wie sie war. Man musste an einem Pendel aus Porzellan ziehen, das an einer Metallkette hing, um die Spülung auszulösen, aber Mirabella befürchtete, dass es einfach einmal losgehen könnte, noch während sie ihr Geschäft verrichtete. Sie lag manchmal nachts wach und stellte sich vor, wie sie davon geschwemmt wurde, wohin der Strudel sie reißen würde.
In Heiligenbronn gab es die Häuschen im Garten, eins für die Mädchen und eins für die Jungen und drei für die Klosterschwestern. Man hatte sich über das Loch im Holzbrett gesetzt,und alles, was man von sich gab, war einfach nach unten gefallen – ohne Wasserstrudel, ohne Gefahr.
Mirabella trank so wenig wie möglich, auf Kaffee verzichtete sie ganz, denn nach dem Morgenkaffee kam immer das große Geschäft. Und wenn
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