Zitronen im Mondschein
einmal im Monat mit ihrer Mutter spazieren ging.
Mirabella hasste diese Nachmittage, die sich ins Unendliche zogen, mit Zoobesuchen und Parkausflügen und Kuchen und Schlagsahne, sie hasste ihre Mutter, die laut und ungebildet war und sich nicht zu benehmen wusste. Sie war so froh, wenn sie abends wieder in der Reichsstraße war.
Es war aber leider nicht so, dass ihre Mutter die Dinge zwischen Mirabella und den Anschütz’ verbesserte. Im Gegenteil, seit jenem ersten Besuch bemerkte Mirabella oft, dass sie Frau Anschütz mit einem seltsamen Gesichtsausdruck betrachtete. Jetzt wundert mich nichts mehr, schien ihre Miene zu sagen.
Kurz bevor Mirabellas Mutter aufgetaucht war, war sie einmal abends in Mirabellas kleines Zimmer gekommen. Mirabella saß auf dem Bett, und Frau Anschütz hatte sich auf den kleinen rosa lackierten Kinderstuhl gesetzt, auf dem allerdings nur ein kleiner Teil ihres mächtigen Hinterteils Platz fand. »Mirabella, du sollst ja nun wie eine Tochter hier bei Herrn Anschütz und mir leben, deshalb haben wir uns gedacht, dass du uns künftig auch Vater und Mutter nennen sollst.«
Mirabella starrte sie entsetzt an. Das war ja unvorstellbar, dass sie so etwas sagen sollte.
»Nun, da freust du dich«, sagte Frau Anschütz stolz.
Sie brachte es einfach nicht über die Lippen. Sie vermied jegliche Anrede, aber wenn sie sich doch einmal verplapperte und Frau Anschütz Frau Anschütz nannte, dann korrigierte sie Frau Anschütz mit sanfter Miene. Bis zum Besuch ihrer wirklichen Mutter. Danach hörte sie auf, sie zu verbessern.
Nachdem Mirabella ihre Mutter wieder getroffen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie im Grunde die ganze Zeit auf sie gewartet hatte. Da sie nicht mehr an Gott glaubte und an die Gnade der heiligen Jungfrau, hatte sie sich ganz an dieser Hoffnung festgehalten.
Wenn sie nur nicht gekommen wäre, dachte Mirabella. Dann könnte ich zumindest noch auf sie warten.
Jeden Morgen ging sie zur Volksschule auf der Kirchfeldstraße. Am ersten Tag hatte sie solche Angst gehabt, dass sie sich zweimal übergeben musste, bevor sie und Frau Anschütz endlich losgegangen waren. Man steckte sie in die fünfte Klasse, für die sie eigentlich viel zu alt war. »Aber sie ist ja ein Waisenkind«, sagte Frau Anschütz leise zu Fräulein Bühler, der Lehrerin. Das erklärte offenbar alles.
Fräulein Bühler war sehr mager und immer ein bisschen müde, dadurch bekam sie oft nicht mit, was die einzelnen Schüler in der Klasse so trieben. Hin und wieder erhob sie die Stimme, um ein besonders dreistes Kind zurechtzuweisen, aber sie stellte keinen in die Ecke und verteilte auch keine Tatzen. Seltsamerweise hielt sich die Unruhe im Klassenzimmer dennoch in Grenzen.
Vor Fräulein Bühler musste man keine Angst haben. Nach einem Jahr hatte sie immer noch Schwierigkeiten mit Mirabellas Vornamen, weil sie ihn niemals gebrauchte. Mirabella fiel nicht auf, störte nicht und meldete sich nicht.
In der Volksschule lernte Mirabella Gudrun kennen. Die vorlaute Gudrun, die schon in die Sechste ging, aber Sportunterricht hatten sie gemeinsam. »Mirabella heißt du?«, fragte sie, als sie und Mirabella zusammen eingeteilt wurden. Sie sollten eine Schubkarre bilden, Mirabella stemmte die Hände auf denBoden, und Gudrun nahm ihre Füße in die Hand, und so ging es durch die ganze Halle, und danach wurde gewechselt. »Der Name ist doch viel zu lang«, meinte Gudrun. »Für mich heißt du Mira.« Und so blieb es.
Mira wollte sich am Anfang nicht mit Gudrun anfreunden, weil Gudrun sie an Ursula erinnerte. Ursula, die Mira verraten und in den Tod geschickt hatte. Ich bin es nicht wert, eine Freundin zu haben, dachte Mira. Aber Gudrun interessierte es nicht, was Mira wollte oder nicht wollte. Sie hatte beschlossen, dass sie gut zusammenpassten. »Wie Pott auf Deckel«, sagte sie. »Du bist der Pott, ich bin der Deckel.«
Irgendwann kam sie sogar mit, als Mira sonntags ihre Mutter traf. Sie fuhren mit der Bahn nach Angermund und mieteten einen Kahn, in dem sie dann die Anger auf- und wieder abruderten. Am Abend verstanden sich Miras Mutter und Gudrun so gut, dass Gudrun versprechen musste, auch beim nächsten Mal wieder mitzukommen.
»Deine Mutter ist so speziell«, sagte Gudrun bewundernd.
»Du kannst sie geschenkt haben«, sagte Mira.
Nicht, dass sie stattdessen Gudruns Mutter wollte, die von morgens bis abends in einer blutigen Schürze hinter der Theke stand und Fleisch- und Wurstwaren verkaufte. Oder gar Frau
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