Zitronen im Mondschein
es dann doch nötig wurde, hielt sie so lang wie möglich ein. »Was zappelst du so von einem Bein aufs andere?«, fragte die Köchin dann. »Hast du Hunger? Essen gibt es erst um eins.«
Noch zehn Minuten, dann geht es nicht mehr, dachte Mirabella. Noch fünf Minuten, dachte sie nur ein paar Sekunden später, aber dann klingelte es. »Rasch, lauf!«, sagte die Köchin, denn das Türöffnen gehörte zu Mirabellas Aufgaben.
Es war Frau Hicken mit Helmut, die eigentlich gar nicht eintreten wollte, weil sie nur etwas abgeben wollte, aber dann entschloss sie sich doch auf einen Sprung hereinzukommen. Mirabella brachte sie in den Salon und holte Frau Anschütz, und als sie beide zurück in den Salon kamen, ließ es sich nicht mehr aufhalten.
»Was ist denn das für eine Pfütze auf dem Parkett?«, fragte Frau Anschütz.
»Die Kleine ist ja ganz nass«, stellte Frau Hicken fest.
»Mirabella!«, rief Frau Anschütz.
»Unser Helmut war schon mit einem Jahr sauber«, sagte Frau Hicken.
Danach gab sich Mirabella noch eine Weile lang Mühe. Nachdem ihre Mutter bei Frau Anschütz aufgetaucht war, hörte sie jedoch auf, sich anzustrengen. Es hatte einfach keinen Sinn mehr.
Mirabellas Mutter kam kurz nach dem Mittagessen, als Frau Anschütz sich gerade hingelegt hatte. Sie arbeitete damals in einer Garnfabrik, und es war ihre Mittagspause, aber das erfuhr Mirabella erst viel später. Mirabella öffnete die Tür und erwartete einen Laufburschen aus Herrn Anschütz’ Fabrik oder den Postboten. Niemand sonst klingelte um diese Zeit, denn jeder zivilisierte Mensch wusste schließlich, dass sich dasin der Mittagspause nicht gehörte. Statt eines Boten stand da aber eine Frau mit einem großen blumengeschmückten Strohhut und einem blauen Kleid unter einem hellgrünen Mantel. Blau und grün tragen die Narren in Wien, dachte Mirabella noch, das hatte man im Waisenhaus immer gesagt, als die Frau den Mund seltsam verzerrte und einen Schritt auf sie zutrat. »Meine Mirabella!«, rief sie laut.
In diesem Moment erkannte Mirabella ihre Mutter. Es war erstaunlich, dass sie sie wiedererkannte, denn sie sah jetzt ganz anders aus als früher. In den vier Jahren, seit sie Mirabella in Heiligenbronn abgegeben hatte, hatte sie sich vollkommen verändert. Früher war sie lustig und schön gewesen, und jetzt sah sie aus wie eine der Hausiererinnen, die einem für teures Geld billige Fingerhüte und Nagelbürsten andrehen wollten. Sie wirkte selbst wie etwas Billiges, das man hergerichtet hatte, damit es teuer aussah.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte ihre Mutter. Auch ihre Stimme hatte sich verändert, sie war früher tief und melodiös gewesen, jetzt klang sie rau. Mirabella öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton heraus, sie hätte auch nichts sagen können, weil hinter ihr plötzlich Frau Anschütz stand und Mirabella an den Schultern fasste. Später fragte sich Mirabella, wie Frau Anschütz überhaupt mitbekommen hatte, dass ihre Mutter gekommen war. Sie schlief doch um diese Zeit immer. Vielleicht hatte sie es tief in ihrem Inneren, in ihren Träumen gespürt, dass man ihr ihr kleines Mädchen wieder wegnehmen wollte. Und obwohl sie mit Mirabella alles andere als zufrieden war, ging das nun doch zu weit.
»Sie haben keinerlei Anrecht auf das Kind«, sagte sie in scharfem Ton zu der fremden Frau, die Mirabellas Mutter war. »Wenn Sie nicht augenblicklich gehen, rufe ich die Polizei.«
Das tat gut, dass Frau Anschütz so für sie eintrat und sie verteidigte, das gefiel Mirabella. Es machte ihr Hoffnung, dass doch noch alles gut werden konnte zwischen ihnen.
Sie stritten noch eine ganze Weile lang herum, dann ging ihre Mutter endlich. Sie kam aber noch einige Male wieder, bis siees endlich einsah und begriff, dass sie Mirabella nicht mitnehmen konnte, dass ihre Tochter in dieses große Haus gehörte. »Es wäre doch auch kein Leben für die Kleine«, sagte der Polizist, den Frau Anschütz zum Schluss wirklich einmal rufen ließ. »Stellen Sie sich das doch einmal vor, Sie selbst den ganzen Tag in der Fabrik, und das Kind sitzt zu Hause. Da hat sie es doch hier so viel besser.«
»Sag du es ihm doch, dass du gerne mit mir kommen möchtest!«, sagte ihre Mutter.
Aber Mirabella schwieg, sie schwieg mit großem Stolz. Sie spürte, dass Frau Anselm zufrieden nickte, obwohl sie sie gar nicht sehen konnte, weil sie hinter ihr stand.
Weil Frau Anschütz aber eine durchaus gutmütige Frau war, gestattete sie, dass Mirabella
Weitere Kostenlose Bücher