Zitronen im Mondschein
Schoß gefaltet, wie einer dieser Seelenärzte, die er so bewunderte.
»Sie spricht nicht, aber dennoch verstehe ich sie. Ich weiß genau, was sie von mir will. Sie ist mir früher schon erschienen, es ist so lange her, dass ich dachte, es sei vorbei. Aber nun war sie wieder da, und ihre Botschaft war für Mirabella.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Otto noch einmal, während Mirabella eine Fliege beobachtete, die an der Fensterscheibe hoch krabbelte, doch immer wenn sie fast oben war, fiel sie wieder nach unten.
»Mirabella soll bei ihrem Vater bleiben, sagte sie, dann würde ihr kein Leid geschehen.«
»Bei ihrem Vater?«, fragte Otto. »Mira hat doch keinen Vater. Wen meinte die Jungfrau? Den himmlischen Vater?«
Miras Mutter zuckte mit den Schultern. Mira konnte ihre Spiegelung in der Scheibe sehen, ihr Spiegelbild wirkte tränenüberströmt. Aber das war nur eine Täuschung. In Wirklichkeit saß ihre Mutter auf ihrer Holzbank und war so ruhig wie der kleine Pinscher, der die Augen geschlossen hatte und schlief.
Sie hat sich das alles ausgedacht, um sich wichtig zu machen, dachte Mira. Wie damals mit Gudrun, wie früher im Zirkus, sie kann es einfach nicht lassen! Als Mira sie wirklich gebrauchthatte, da hatte sie sie im Stich gelassen, aber jetzt, wo Mira mehr als genug von ihr hatte, kam sie an und belästigte sie mit ihrem Aberglauben und ihren überspannten Ideen.
Mit einem Mal bebte sie vor Wut. Es war eine uralte Wut, die sich jahrzehntelang aufgestaut hatte, eine Wut auf ihre Mutter und Mirko, den Zwerg, die nie gekommen waren, auf Schwester Clementia und die kleine Margareta und Schwester Innozenz und Ursula, die gestorben war, und Frau Anschütz, die sie nicht lieben konnte, und Herrn Anschütz und den kleinen Herbert und auf Anselm.
»Es reicht jetzt, Mutter«, zischte Mira. »Du hast ihn doch weggetrieben, meinen Vater, wahrscheinlich wolltest du ihn loswerden, genau wie mich auch. Die Muttergottes im Volksgarten! Das muss man sich einmal vorstellen. Du willst dich doch bloß aufspielen. Oder du hast den Verstand verloren! Es ist mir ganz gleich, lass mich in Ruhe. Lass mich endlich in Ruhe!« Mit jedem Wort war sie lauter geworden, und den letzten Satz schrie sie, so dass die Fahrgäste vor ihr und hinter ihr die Hälse reckten und sich umsahen. Sogar der Fahrer drehte sich nach ihr um, ohne die Hände vom Steuer zu lassen. Es war nun ganz still im Waggon.
Jetzt hörte jeder nur seinen eigenen Herzschlag.
Dann winselte der Pinscher.
»Is dat en Hunk? Han Se do etwa en Hunk?«, rief der Schaffner, der am Ende des Waggons stand. Er näherte sich mit großen Schritten, wobei er sich an den Lehnen der Bänke festhielt und wieder abstieß, es sah aus, als ruderte er auf sie zu. »Hüng dürfen hier nit erinn!«
Miras Mutter stand auf. »Mirabella«, flüsterte sie.
»Wenn dat Ihre Hunk is, müssen Se ussteijen«, keuchte der Schaffner.
»Mira!«, schrie Mira. »Ich heiße Mira!«
II.
Das Haus auf der Reichsstraße war ihr so groß vorgekommen wie das ganze Kloster Heiligenbronn. Drei immense Stockwerke, der Keller, der Dachboden, zwei Balkons im ersten Stock und eine große Loggia und der Garten. Aber im Kloster lebten mehr als zweihundert Menschen, und bei den Anschütz’ waren es gerade einmal fünf: das Ehepaar Anschütz, die Köchin, das Dienstmädchen und Mirabella. Oder vielmehr viereinhalb. »Denn das Mirabellchen ist ja nur eine halbe Portion«, sagte Herr Anschütz. Das Mirabellchen, so nannte er sie am Anfang immer – als ob sie ein kleiner Gegenstand wäre und keine Person.
Sie hatte sich fest vorgenommen, dass Frau Anschütz sie wie ein eigenes Kind in ihr Herz schließen sollte und Herr Anschütz auch. Sie sollten sie lieben oder zumindest gern haben, aber es war so unendlich schwierig, jemandem zu gefallen, wenn man so ein schwieriges Geschöpf war wie Mirabella.
Es war nicht so, dass Frau Anschütz keinen guten Willen zeigte. Sie kaufte Mirabella Kleider – Blusen, Strümpfe und Schürzen, alles in Rosa und Hellblau, mit Rüschen und winzigen Röschen bedruckt. Alles viel zu klein. Mirabella zog den Bauch ein und hielt die Luft an, als sie sich Frau Anschütz in einem winzigen Dirndl präsentierte. »Ganz entzückend«, rief Frau Anschütz, und Mirabella atmete voller Erleichterung aus, dabei sprangen alle fünf Perlmuttknöpfchen vom Mieder, und das Leibchen darunter riss von oben bis unten auf.
»Wenn du es doch nur vorher gesagt hättest, dann hätte ich die Sachen
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