Zitronen im Mondschein
Anschütz.
Sie brauchte einfach keine Mutter mehr.
An Miras vierzehntem Geburtstag bekam sie von Frau Anschütz ein in rosa Veloursleder gebundenes Tagebuch und einen silbernen Füllfederhalter. »Und eine ganz wunderbare Neuigkeit habe ich für dich, an diesem Freudentag.« Sie machte eine bedeutsame Pause, so lange bis Mira sie ansah.
»Uns wird ein Kind geboren werden«, sagte sie mit bebender Stimme. Einen Moment lang war Mira ratlos. Wer sollte dieses Kind gebären, das Frau Anschütz Mira ankündigte wie der Engel der Jungfrau Maria? Dann verstand sie, dass Frau Anschütz in der Hoffnung war. Schwanger, nach so vielen Jahren.
»Es wird im September zur Welt kommen«, erzählte Frau Anschütz Frau Hicken. »Mein Mann hofft natürlich auf einen Stammhalter.«
»Ein Mädchen kann aber auch durchaus reizend sein«, sagte Frau Hicken.
In dieser Zeit wurde manches schwerer und anderes viel einfacher. Nachdem Mira die Volksschule beendet hatte, wurde das Dienstmädchen Ruth entlassen, weil Mira ja nun in einem Alter war, in dem man durchaus auch mal mit anfassen kann, wie Frau Anschütz sagte. »Na siehste, hätt do no jeklappt!«, flüsterte Ruth Mira zu, als sie sich von ihr verabschiedete. Sie hatte schon eine neue Anstellung gefunden und wollte sowieso bald heiraten. »Wenn isch zwanzisch bin, und dann jibbet Kinger, und nich erst wenn eesch son aal Doos bin als wie die Anschütz.«
Mira machte die Betten, putzte, deckte den Tisch und half in der Küche und bei der Wäsche und ging mit dem kleinen Herbert spazieren. Sonntagnachmittags traf sie sich manchmal mit Gudrun, die inzwischen ihre Schneiderlehre begonnen hatte. »Du musst von der Anschütz weg. Die nutzt dich doch nur aus«, sagte sie. »Du machst die ganze Arbeit, und sie zahlt dir keinen Pfennig.«
Kurz vor Miras sechzehntem Geburtstag besorgte sie ihr die Stellung als Serviermädchen im Goldenen Ochsen. »Jetzt geht es aufwärts«, meinte sie. »Jetzt hast du dein eigenes Einkommen und suchst dir ein Zimmer zur Untermiete, und die Anschütz kann in den Mond gucken.«
III.
Weit hinter ihnen lagen die letzten Häuser von Eller. Vor ihnen reckte sich schwarz und drohend der Eller Forst. Über ihnen war der Himmel wie ein umgedrehtes riesiges Loch, in das der Mond gefallen war und ein paar Sterne. Sie bahnten sich einen Weg auf einem Trampelpfad durch ungemähte Wiesen. »Wir haben uns verlaufen«, meinte Mira.
Das war das erste Mal, das sie wieder etwas sagte, seit der Schaffner ihre Mutter und den Pinscher aus der Elektrischen geworfen hatte. Otto hatte natürlich hinterher versucht, alles Mögliche aus Mira herauszubekommen. Was zwischen ihr und ihrer Mutter wäre, wollte er wissen. Warum sie nie etwas von ihrer Vergangenheit erzählte. Warum sie überhaupt nie etwas erzählte. Ob er sie nach Hause bringen sollte. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt, auch auf die letzte Frage, also war er geblieben. Dafür war sie ihm sehr dankbar, denn allein wäre sie nicht auf das Fest gegangen, und nach Hause zu Anselm wollte sie auf keinen Fall.
Und nun hatten sie sich im Nichts verlaufen. Vielleicht ist es besser so, dachte Mira. Wir gehen einfach immer weiter in die Nacht hinein. Aber dann hörten sie Musik, und kurz darauf sahen sie auch die Lichter.
Girlanden von Lampions, grün, rot, blau und gelb. Sie schaukelten sanft im Wind, sie wiegten sich zum sehnsuchtsvollen Gefiedel eines Geigers, der auf einem kleinen Podest stand. Um ihn herum wurde getanzt, Arm in Arm und Wange an Wange, denn es war ein zärtliches Lied.
»So hab ich mir ein Anarchistenfest nicht gerade vorgestellt«, sagte Otto.
Als sie die Wiese vor den Häusern erreicht hatten, sprangen ein paar Männer zu dem einsamen Geiger auf sein Podest. Einer griff sich ein Banjo, einer trug eine Tuba, ein anderer ließsich hinter einem Schlagzeug nieder. Jetzt wurde alles lauter, schneller und lustiger.
Mir ist heut so nach Tamerlan, nach Tamerlan zumut,
ein kleines bisschen Tamerlan, ja Tamerlan wär gut.
Es wäre ja, geniert mich das,
geniert mich das, gelacht .
Ich glaube, es passiert noch was,
passiert noch was, heut Nacht,
sang der Mann mit dem Banjo. Die Röcke der Frauen öffneten sich wie umgedrehte Blütenkelche über ihren Beinen, und wenn sich die Tanzrichtung änderte, schlossen sie sich wieder.
»Ich hole etwas zu trinken«, sagte Otto und war schon verschwunden. Mira reckte den Kopf. Wo war Nero Battaglia? Überall standen junge Menschen in Gruppen zusammen, aßen
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