Zitronen im Mondschein
sehen, auch wenn er dort zwei Wochen später lief als auf der Graf-Adolf-Straße. Und sei es auch nur, um die Kassiererin und die Platzanweiserin nicht zu enttäuschen.
Das Kino war halbleer, als sie sich in den harten Sitz fallen ließ. Mira war offenbar nicht die Einzige, die der neue Klavierspieler vertrieben hatte. Wie wenig man doch zu schätzen weiß, was man hat und kennt, dachte Mira. Als der alte Pianist noch am Leben gewesen war, hatte sie ihn kein einziges Mal gelobt, nicht einmal in Gedanken.
Dann ging das Licht aus, und die Leinwand wurde hell. Mit dem Vorfilm begann die Musik, und nach den ersten zehn Takten saß Mira ganz aufrecht da und starrte nach vorn, aber nicht auf die Leinwand, sondern auf die winzige Lampe auf dem Klavier, hinter der der Pianist saß. Es waren aber nicht mehr als schemenhafte Umrisse zu erkennen.
Wer immer heute am Klavier saß, konnte spielen. So gut wie der alte Pianist. Nein, besser, viel besser, stellte sie fest, als nun der Hauptfilm begann. Die Töne ballten sich bedrohlich zusammen, während der riesige Körper des Mephisto seinen Schatten auf die zusammengedrängte Stadt auf der Leinwand warf wie ein Raubvogel auf ein kleines Kaninchen. Pest und Verderben, Verzweiflung und Elend verkündete die Musik, und genauso kam es auch. Die Menschen auf den Straßen sanken tot in sich zusammen, und niemand konnte ihnen helfen, auch Faust nicht, der alte Arzt. Bis er seinen Pakt mit dem Teufel abschloss, der ihm zu ewiger Jugend und Wunderkräften verhalf. Aus dem Greis wurde ein junger, schöner Mann. Spätestens zu diesem Zeitpunkt vergaß Mira den Pianisten und die Musik und verlor sich in den Bildern, wie sie sich schon lange nicht mehr in irgendetwas verloren hatte.
Nachdem Faust und Gretchen in inniger Umarmung in den Himmel aufgefahren waren, war der Film zu Ende. Ihre Hände waren taub, weil sie die ganze Zeit über die Seiten ihres Sitzes umklammert hatte. Benommen ließ sie sich vom Sog der Besucher nach draußen ziehen, erst in der Eingangshalle kam sie zur Besinnung. »Man muss dem Pianisten doch sagen, wie gut er es gemacht hat«, sagte sie zu einer Frau, die neben ihr stand.
Die Frau sah sich irritiert um. »Kennen wir uns?«, fragte sie dann zurück.
Mira hatte sich jedoch schon abgewandt. Sie drängte sich durch die Menschenmenge wie durch eine zähe Flüssigkeit zurück in den Kinosaal und eilte die breiten Stufen hinunter bis zum Klavier. Der Pianist saß noch auf seinem Schemel, er hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit einem großen weißen Taschentuch. Sie hatte aus irgendeinem Grund angenommen,dass er alt wäre wie der erste Klavierspieler, klein und verschrumpelt, aber jetzt sah sie, dass er etwa fünfundzwanzig Jahre alt war, vielleicht auch jünger. Dummerweise hatte sie sich vorher keine Worte zurechtgelegt, und nun, da er den Kopf hob und sie fragend ansah, fielen ihr auch keine ein. Auf dem Rücken seiner großen, ein wenig schiefen Nase und unter seinen Augen sah man deutlich die runden Abdrücke, die sein Brillengestell hinterlassen hatte.
Mira räusperte sich. »Ich wollte Ihnen sagen, dass es mir sehr gut gefallen hat«, sagte sie. Zu ihrem Ärger musste sie mitten im Satz schlucken. »Ich meine, der ganze Film, aber besonders Ihr Spiel.«
»Danke«, meinte er. Dann hauchte er auf die Brillengläser und polierte sie, zuerst das eine, danach das andere. »Sehr freundlich.«
»Ich hoffe, ich sehe Sie wieder. Also … hier im Kino, als Pianist«. Was redete sie nur für einen Blödsinn? fragte sie sich, während sie auf seine langen schmalen Finger starrte, die die Gläser putzten. Dann setzte er die Brille wieder auf und sah sie nachdenklich an.
»Ich denke, ich werde in Zukunft immer hier spielen.«
»Das ist gut«, erwiderte sie hastig. »Es war mir ein Vergnügen.«
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte er, während er sich erhob. Er war nicht viel größer als sie und schmal gebaut, und seine Lippen machten am äußersten Winkel eine winzige Wendung nach oben, wie ein Entenschnabel.
»Ich bin hungrig«, sagte er, als sie nichts entgegnete.
Er hieß Anselm Guben, tagsüber arbeitete er im Oberbilker Stahlwerk und abends im Kino. So viel hatte sie immerhin erfahren, als sie das kleine Lokal auf der Suitbertusstraße betraten. Drinnen war es sehr düster, verraucht und voll. Mira hatte den Eindruck, dass sie die einzige Frau war, aber sie konnte sich auch täuschen, weil sie vor lauter Rauch nicht weiter als ein paar Meter sehen
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