Zitronen im Mondschein
Mira manchmal vorlas.
»fmsbwetözäupffiv-?mü-,« las er, dabei betonte er jeden einzelnen Buchstaben so präzise, als wäre es ein sinnvolles Wort.
»Was soll das?«, fragte Mira.
»Das ist der Beginn einer abstrakten Parabel«, erklärte er.
»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, meinte sie kopfschüttelnd.
»Es ist ganz neu. Aber auch sehr alt«, sagte der Mann nachdenklich. »Sprechen Sie Esperanto?«
»Wie bitte?«, fragte Mira zurück, aber dann musste sie auch schon wieder weiter.
Nachmittags erschien Gudrun in einem wadenlangen blauen Seidenkleid und einem passenden schmalen Hut mit grüner Feder.
»Warum bist du denn nicht in deinem Salon?«, fragte Mira. »Hast du nichts zu tun?«
»Geschäftsbesprechung«, gab Gudrun etwas pikiert zurück. Mit spitzen Fingern holte sie eine Zigarette aus einem goldenen Etui, steckte sie in einen Elfenbeinfilter und zündete sie an. Dann tauchte auch schon Herr Pressmann auf und wenige Sekunden später seine Frau. Mira zog sich zurück.
Frau Pressmann trug einen Korb, den sie auf den Stuhl neben sich stellte. Erst als Mira die Bestellung aufnahm, sah sie, dass ein junger Hund darin lag. »Bringen Sie mir ein Glas Martini«, sagte Frau Pressmann, ihr Blick glitt dabei über Miras Gesicht wie über das einer völlig Fremden. »Und einen Suppenteller Wasser für den Hund.«
Hunde sind hier nicht zugelassen, wollte Mira sagen. Alles in ihr schrie den Satz, schleuderte ihn in Frau Pressmanns arrogantes, künstliches Gesicht. Aber wie bei der Saloneröffnung brachte sie keinen Ton hervor. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder wie ein gestrandeter Karpfen. »Für mich schwarzen Tee«, sagte Herr Pressmann. »Der Blutdruck. Und du, Gudrunchen?«
Gudrun bestellte Limonade, und Mira kritzelte die entsprechenden Zahlen auf ihren Block.
»Vergessen Sie das Wasser nicht«, sagte Frau Pressmann. »Das Tier hat Durst.«
»Bestimmt nicht«, sagte Mira.
Für den Rest der Woche zeigten sie im Odeon-Theater den Faust. Erst für Samstag war ein neuer Film angekündigt, stellte Mira fest, obwohl sie so sehnsüchtig wie noch nie darauf wartete, wieder ins Kino zu gehen. Aber den Faust konnte sie nicht noch einmal ansehen. Was sollte denn Anselm Guben von ihr halten, wenn sie in dieser Woche noch einmal auftauchte?
Er würde sofort vermuten, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Und vermutlich stimmte es ja auch.
Sie zwang sich jeden Abend dazu, nicht an ihn zu denken, und scheiterte jedes Mal aufs Neue. Im Geiste ging sie immer wieder ihre Unterhaltung durch. Was er gesagt hatte und was sie darauf erwidert hatte, nur dass sie in ihrer Vorstellung viel frechere und interessantere Antworten gab als in Wirklichkeit. Wenn es klopfte, fuhr sie zusammen, weil sie dachte, dass er es sei. Dabei wusste er noch nicht einmal, wo sie wohnte.
Es klopfte ohnehin nur sehr selten. Die Zimmerwirtin kam einmal hoch und ermahnte sie, weil sie beim Nachhausekommen das Treppenlicht nicht ausgeschaltet hatte. Der Bursche von der Reinigung brachte die frisch gewaschenen und gestärkten Schürzen für die Rheinterrasse. Am Donnerstag besuchte ihre Mutter sie und erzählte ihr von ihrer neuen Geschäftsidee. »Wir werden Schmuck herstellen«, erklärte sie. »Ketten, Ohrringe, Armreifen. Wie findest du das?«
»Woher willst du denn das Geld für die teuren Materialien nehmen? Und wer ist überhaupt
wir
?«
Einen Moment lang hatte sie die unsinnige Idee, dass sich ihre Mutter ebenfalls auf Pressmann eingelassen haben könnte. Aber das war natürlich dummes Zeug. Welchen Grund hätte Pressmann, sich für ihre Mutter zu interessieren?
»Hilde und ich, wer sonst«, meinte ihre Mutter jetzt. »Wir verwenden auch nichts Teures. Kunstperlen, Emaille, Messing, die Verschlüsse und Rohlinge werden geliefert, und wir dekorieren das Ganze. Diese Art von Schmuck ist doch jetzt so chique. Und Gudrun wird das Ganze vertreiben. Sie ist quasi unser Sprungbrett in die Welt der Mode.«
Mira dachte an Frau Pressmanns lange Halsketten, die breiten Armreifen, die sie und ihre Freundinnen immer trugen. Ihre Mutter mochte vielleicht recht haben. Trotzdem gab sie nicht viel auf die Sache. Ihre Mutter war sicherlich geschickt und ideenreich, aber ihr fehlte jeglicher Geschäftssinn. Sie war viel zu unvernünftig und impulsiv.
Wenn Mira nicht an Anselm Guben dachte, wartete sie darauf, dass Gudrun sie besuchte. Aber sie kam nicht. Vielleicht war sie zu beschäftigt, vielleicht wollte sie mit Mira nichts
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