Zitronen im Mondschein
mehrzu tun haben, wo sie sich jetzt mit den Pressmanns so gut verstand. Dabei hätte Mira ihr so gerne von Anselm erzählt und ihren Rat gehört.
Am Sonnabend läuft ein neuer Film, dachte Mira. Dann würde sie Anselm wieder sehen. Sie zählte die Tage, die Stunden, die Minuten.
In den kühlen Monaten ging sie nur zweimal in der Woche einkaufen, mittwochs und sonnabends. In ihrer Dachkammer war es dann so kalt, dass auch Milch und Schichtkäse nicht verdarben. Sie ging vor der Arbeit zum Markt, wenn die Frauen gerade ihre Buden aufgemacht und die Waren ausgebreitet hatten, kaufte in aller Eile ein, danach hastete sie nach Hause, um die Waren wegzubringen, und dann ins Restaurant.
Mehl, Brot, Holländerkäse, Eier und Milch hatte sie schon gekauft, sie brauchte noch Kartoffeln, Äpfel und Zwiebeln. Und ein Stück Speck, dachte sie, nachdem sie die übrigen Lebensmittel in ihrem Korb verstaut hatte und fast schon auf dem Rückweg war. Dann konnte sie heute Abend Reibekuchen mit Speck machen.
Sie rannte also noch einmal zurück zum Fleischerstand, aber nicht zu dem an der Elisabethstraße, sondern zu Metzger Hansen, da gab es mehr für das gleiche Geld. Sie musste sich jetzt wirklich beeilen, dachte sie, während sie eine Frau mit Kinderwagen überholte und dabei unsanft mit dem Ellenbogen anstieß. Erst als sie schon am Stand angekommen war, fiel ihr auf, wie unnötig der Umweg gewesen war. Wenn man nur ein Stück Speck brauchte, machte es doch wahrhaftig keinen großen Unterschied, ob es einen halben Finger breiter oder schmaler war.
Neben sich hörte sie ein vorwurfsvolles Schnaufen. Es war die Frau mit dem Kinderwagen an, die sie vorhin angerempelt hatte, und jetzt erkannte sie Mira.
»Frau Anschütz!« Von einer Sekunde zur anderen spürte sie ein heftiges Pochen in ihrem Ellenbogen.
»Mirabella!« Wie lange war es her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen hatten? Ein Jahr, zwei Jahre? Noch länger? In jedemFall hatte sich Frau Anschütz kein bisschen verändert. Ihr schwarzes Haar war zu einer Tolle gekämmt und auf dem Kopf zusammengesteckt, darauf saß ein dunkelblauer Hut mit einem schwarzen Hutband. Der Blusenkragen über dem schwarzen Schal blitzte blütenweiß, die Schuhe glänzten frisch poliert, als wäre sie über die Straßen geschwebt.
Vor zwei oder drei Jahren hatte sie genauso ausgesehen und vor acht Jahren vermutlich ebenfalls, auch wenn Mira sich da natürlich täuschen konnte, sie war ja noch ein Kind gewesen, als sie Frau Anschütz kennengelernt hatte.
»Kaufen Sie auch hier ein?«, fragte Mira. Eine dumme Frage – es war ja offensichtlich, dass Frau Anschütz nicht zum Spazierengehen auf den Marktplatz kam.
»Das Mädchen hat etwas vergessen«, erklärte Frau Anschütz. Ihre Miene wirkte streng und ernst und gleichzeitig ein wenig gekränkt. Auch das war wie früher.
Der Metzger reichte Mira ihren Speck, und sie steckte ihn ein und gab ihm das Geld. Sie sah Frau Anschütz’ Blick, der ihren Händen folgte, und hatte plötzlich das Bedürfnis, das Paket wieder aus dem Korb zu holen, auszupacken und zu kontrollieren, ob das Fleisch auch gut durchwachsen und nicht zu knorpelig war. Nicht weil sie dem Metzger misstraute, sondern um Frau Anschütz zu zeigen, was für eine verantwortungsvolle Person sie geworden war.
»Wohnst du denn hier in der Gegend?«, fragte Frau Anschütz.
»Hinter dem Hospital«, erklärte Mira. »Es geht mir gut«, fügte sie dann hinzu, obwohl sich Frau Anschütz gar nicht danach erkundigt hatte.
Frau Anschütz nickte und rückte ihren Hut zurecht, sie schien darauf zu warten, dass Mira nun ihrerseits eine Frage stellte. Miras Blick wanderte von ihrem wachshellen Gesicht zu dem Korbwagen neben ihr, in dem ein kleiner, rotbäckiger Junge saß und an einem Rosinenbrötchen lutschte. Den aufgeweichten Teig hatte er gleichmäßig über seine untere Gesichtshälfte und das Oberteil seiner Kleidung verteilt, es sah aus, als habe er sich erbrochen.
»Herbert«, sagte Mira und lächelte, obwohl sie den Jungen nie gemocht hatte.
»Das ist Gottfried«, sagte Frau Anschütz mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Herbert ist fünf, er geht schon zur Kinderschule.« Gleichzeitig beugte sie sich über das Kind und nahm ihm das aufgeweichte Brötchen weg. Dann fuhr sie ihm mit einem Tuch über das Gesicht. Der Junge ließ alles ohne Protest über sich ergehen.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie noch einmal …«, sagte Mira. »Herzlichen
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