Zitronen im Mondschein
Glückwunsch.«
Gottfrieds Gesicht war jetzt sauber. Er lächelte Mira an, aber sie lächelte nicht zurück.
»Zwei Söhne haben wir jetzt«, sagte Frau Anschütz und räusperte sich. »Herr Anschütz ist sehr stolz, das kann man sich ja vorstellen.«
»Gratuliere«, sagte Mira. »Du meine Güte, wie die Zeit vergeht.« Wie auf ein Kommando schlugen die Kirchturmglocken halb neun. »Ich muss los.«
Es war noch nicht einmal gelogen, aber sie sah Frau Anschütz an, dass sie ihr nicht glaubte. Als Mira über den Marktplatz nach Hause hastete, fühlte sie, dass sie ihr nachschaute, kopfschüttelnd und ein wenig bedauernd. Und sie wusste genau, dass Frau Anschütz niemals wieder auf den Markt kommen würde, jedenfalls nicht um diese Uhrzeit.
Um halb zwölf war der Herr mit dem Skizzenbuch immer noch nicht erschienen. Zwei Damen saßen an dem Tisch am Fenster, an dem er sonst immer saß, und Mira merkte plötzlich, dass sie nervös war. »Wo bleibt denn heute unser verrückter Vogel?«, fragte schließlich sogar Elsbeth, aber im selben Moment sah Mira ihn hereinkommen.
Er ging zielbewusst und ohne Zögern auf seinen Tisch am Fenster zu. Als er ihn fast erreicht hatte, bemerkte er die beiden Frauen und blieb abrupt stehen. Auch Mira und Elsbeth blieben stehen, und Mira hatte einen Moment lang den unsinnigen Eindruck, dass auch die übrigen Leute im Restaurant denAtem anhielten und nur darauf warteten, wie der Mann sich nun verhalten würde. Er zögerte jedoch nur ein paar Sekunden lang, dann nahm er an einem anderen Tisch Platz. Elsbeth hob ihr Tablett wieder an. »Bring ihm nur schnell seinen Kaffee«, raunte sie Mira noch zu. »Sonst bekommst du Ärger mit Kiesemann, wenn er in der Mittagszeit nichts verzehrt.«
»Sie sind spät heute«, meinte Mira, als sie das dampfende Kännchen auf den Tisch stellte, auf dem der Mann inzwischen sein Skizzenbuch ausgebreitet hatte.
»Ja«, murmelte er und kniff die Augen zusammen, während er mit dem Daumen über seine Zeichnung wischte. Diesmal hatte er Tiere gemalt, Hunde, Schafe, Pferde, Mäuse und Schlangen, die sich auf eine sehr eigenartige Weise ineinander fügten. Der Schlangenkopf verbiss sich in den Schwanz des Hundes, dessen vier Pfoten wiederum auf einer Art Fließband standen, das von Mäusen gebildet wurde. Eine absurde, sinnlose Maschine aus lebenden Wesen.
»Warum?«, fragte Mira.
Der Mann hob den Kopf und sah sie an. Seine Augen waren sehr klar und hell, er wirkte zutiefst verwirrt, fast ein bisschen verängstigt. »Was meinen Sie?«
»Warum Sie heute so spät sind.« Miras Stimme klang auf einmal barsch und fordernd, so als wäre er ihr Rechenschaft schuldig. Dabei war er der Gast und sie das Serviermädchen. Es stand ihr nicht zu, ihn irgendetwas zu fragen. Im Gegenteil. Still und zuvorkommend muss ein Servierfräulein sein, sagte Herr Kiesemann immer. Mira warf einen nervösen Blick über ihre Schulter, ob er vielleicht hinter ihr stand und zuhörte, wie sie mit seinen Gästen sprach.
»Bitte um Verzeihung«, sagte der Zeichner unglücklich. »Ich habe die Zeit vergessen.«
Sie fragte sich, ob er sich über sie lustig machte, aber seine Augen waren so hell und unschuldig und aufrichtig. Er sah sie an, und sein Daumen fuhr dabei über den Rand der Zeichnung und verwischte das Äußere der seltsamen Tiermaschine zu einem grauen Schatten, zu einem vagen Nichts.
»Es ist ja schon recht«, murmelte sie betreten.
Sein Kopf ging nach unten, in Richtung Brust. Einmal, zweimal, dreimal. Er nickte. Dann wandte er sich wieder seiner Zeichnung zu.
Sie fühlte sich plötzlich, als wäre sie es, die Rechenschaft schuldete und gefragt worden war und aus irgendeinem Grund versagt hatte.
An ihrem freien Tag ging Mira schwimmen. Sie hatte gehört, dass das Woglinde-Wellenbad nur noch eine Woche geöffnet wäre, bevor es wie die meisten anderen Gesolei-Gebäude abgerissen werden sollte. Sie war im Sommer schon ein paarmal da gewesen, mit einigen anderen Serviermädchen und einmal auch mit Gudrun, der das Wasser allerdings zu kalt gewesen war.
Mira war eine recht ordentliche Schwimmerin, aber ob man gut schwimmen konnte oder nicht, spielte im Wellenbad keine Rolle. Ins
Planschetarium
– wie das Bad genannt wurde – ging man nicht, um zu schwimmen. Man ging dorthin, um sich ins Wasser zu legen, am besten irgendwo am Rand, wo man sich festhalten konnte, um auf die Wellen zu warten, die in viertelstündlichem Abstand aufbrandeten und dann fünf Minuten lang
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