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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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und alles andere legte.
    »Keineswegs«, sagte er dann.
    Sie wusste, dass er log. Sie war sich ganz sicher, dass Madame Argent auch bei ihm gewesen war.
    Sie hätte alles dafür gegeben, um zu erfahren, was Madame Argent Mirko über sie gesagt hatte, aber sie wusste, dass es sinnlos war. Je mehr sie in ihn dringen würde, desto weiter würde er sich in sich selbst zurückziehen. Sie würde nichts aus ihm herausbekommen.
    Es ist auch ganz gleichgültig, dachte sie dann. Meine Entscheidung ist getroffen, und meine Entscheidung war richtig.
    Mirko ging, und Maria blieb allein zurück. Sie faltete ihre Hände und versuchte sich das lebendige Gesicht der Muttergottes wieder ins Gedächtnis zu rufen. Komm und sprich zu mir!, betete sie, aber sie bekam keine Antwort.
    Um sie herum schloss sich die Dunkelheit wie eine riesige Hand. Sie trennte Maria von allem anderen, von Mirko und den Zirkusleuten, von Ludwig, der irgendwo dort draußen war, von der Jungfrau Maria und von Gott.
     
    Alles ging weiter. Maria war oft schlecht, und sie weinte viel in diesen Wochen. Sie versuchte, so wenig wie möglich an Ludwig zu denken. Nach zwei Monaten stellte sie mit Erschrecken fest, dass sie sich nicht mehr richtig an sein Gesicht erinnern konnte. Nach vier Monaten merkte sie, dass der Gedanke an ihn ihr keine Schmerzen mehr bereitete. Von nun an blieb er an ihrer Seite, wo immer sie war, was immer sie tat. Bevor sie eine Entscheidung traf, fragte sie ihn um Rat.
    Mitte September brachte ihr Mirko einen kleinen Kuchen mit zwei Kerzen ins Zelt. Er stellte ihn auf den Tisch und war verschwunden, bevor sie fragen konnte, was das zu bedeuten hatte. Dann verstand sie. Heute vor zwei Jahren hatte Madame Argent ihr die Zukunft vorausgesagt, seit diesem Tag war sie beim Zirkus Lombardi. In diesen zwei Jahren hatte sie Madame Argent kennengelernt und Ludwig Wunder, und danach hatte sie beide wieder verloren.
    Sie war jetzt ein Teil des Zirkus, auch wenn viele der Zirkusleute ihr die Trennung von Ludwig immer noch übel nahmen. Die missbilligenden Blicke wurden jedoch seltener, und irgendwann saß sie wieder mit den anderen am Feuer und trank ihren Kaffee und redete über dies und das.
    »Und wie geht es damit?«, fragte Silvia und wies dabei mit dem Pfeifenstiel auf Marias immer runder werdenden Bauch. Auch das war neu, dass sie die Frauen jetzt darauf ansprachen, als wäre es die normalste Sache der Welt.
    »Gut«, sagte Maria. »Ich kann es jetzt schon spüren, wie es sich bewegt.«
    Silvia nickte und zog an ihrer Pfeife, so dass sie leuchtend rot aufglühte, und dann nickte sie noch einmal.

Fünftes Kapitel
    I.
    Vor dem Fenster seines kleinen Zimmers hingen lange Eiszapfen wie die stahlgrauen Stäbe eines Gitters. Er legte neues Holz in den Ofen, darunter brachen die Überreste der glühenden Scheite krachend in sich zusammen. Orangenfarbene Funken stoben durch die offene Ofenklappe ins Zimmer, sie flatterten schwerelos durch die Luft und verglühten schließlich zu schwarzen Aschepunkten. Frische Sprenkel auf dem schmutzigen Holzboden. Man müsste das malen, dachte Ludwig. Diese leuchtende, explodierende Kraft. Aber anstatt seine Aquarellfarben herauszuholen, blies er in seine Hände. Es war zu kalt.
    Es war seit Wochen so kalt. Das Geld, das er im August 1913 für die zwei Bilder bekommen hatte, die Walden für ihn verkauft hatte, war verbrannt. In Form von Feuerholz war es in Flammen aufgegangen. Feuerholz wurde immer teurer, je härter der Winter wurde, je länger er andauerte.
    Der Ofen zog nicht richtig. Durch die Ränder der gusseisernen Klappe drang grauschwarzer Rauch ins Zimmer und nebelte Ludwig ein. Wenn die Zimmerwirtin nur endlich einmal den Schornsteinfeger kommen ließe, unzählige Male hatte er sie schon daran erinnert. Aber sie investierte das Geld lieber in neue Teppiche und schwere Vorhänge für ihre Wohnung in der Beletage als in die Kammern, die sie unter dem Dach an arme Handwerker und Hungerleider wie Ludwig vermietete.
    Der Qualm zog inzwischen in seine Nase, seinen Mund, seine Augen. Er hatte das unsinnige Gefühl, dass er ihn sogar hören konnte, ein leises höhnisches Summen, aber das war natürlich bloße Einbildung. Er hustete eine Weile, es klang, als ob einer mit einer Schaufel über einen Steinboden kratzte.
    Man müsste das malen, dachte er wieder, wie ich hier sitze, dünn und verfroren mit meinem roten Schal, in einer Wolke aus grauer Luft. Aber dann beschloss er, die Flucht zu ergreifen.
    Um diese Zeit

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