ZITRONENLIMONADE (German Edition)
Physiotherapeut konnte mich gerade ärgern.
Der war ein Kapitel für sich: Wenn
Franzis Aussage, dass ihre Kollegen auf der normalen Physiotherapiestation
ebenso kompetent waren wie sie, wirklich stimmte, dann hatte ausgerechnet ich
die einzige Niete erwischt. Peter, so hieß der etwa Dreißigjährige, brachte mich
nicht wirklich voran. Ich wollte endlich laufen, laufen, laufen, egal wie. Aber
er war ein seeehr bedächtiger Zeitgenosse und bremste mich ständig aus.
Unsere zwanzigminütige (nein, das ist
kein Witz, ich hatte wirklich nur so
lang) tägliche Therapieeinheit begann er ausnahmslos damit, dass er mir - ich
immer im Rollstuhl sitzend - den Schuh und Socken rechts auszog und dann erst
mal zehn Minuten nur meinen Fuß gründlich massierte. Er behauptete, das sei
unbedingt notwendig, da sich alle Sehnen sonst verkürzen würden. Er machte das
aber mit so einer heiligen Hingabe, dass ich nur hoffen konnte, nicht an einen Fußfetischisten
geraten zu sein.
Nach dieser Massage durfte ich dann noch
ein paar Stehübungen machen. Bis jetzt hatte er mir nur einmal erlaubt, am
sogenannten Gehbarren das Laufen zu üben.
Das waren zwei lange Geländer im Übungsraum,
die parallel etwa einen halben Meter auseinander standen. Die Gehbehinderten
stellten ihren Rollstuhl an den Anfang der Stangen, erhoben sich und hielten
sich rechts und links fest, Und dann wurde Schritt für Schritt geübt. Wie man
belastete, das betroffene Bein keinesfalls bewusst anhob, sondern einfach
"nach vorne fallen ließ". Die Hüfte sollte dabei möglichst ruhig
bleiben. Es gab dabei so viel zu beachten, dass mir ganz schwindelig wurde.
Laufen sieht so einfach aus. Aber wenn man es nicht kann, ist es derart
kompliziert! Nach diesem einen Mal befand Peter, mein Bein sei noch zu schwach,
als dass Gehübungen schon Sinn machten. Aber wie zum Donnerwetter sollte es
denn stärker werden, wenn ich immer nur saß? Als ich ihm, etwas gemäßigter, die
Frage stellte, kam er mir wieder mit seinem " Geduld haben" und dass
wir erst noch Stehübungen machen müssten. Ich ertappte mich dabei, allen an mir
vorüber eilenden normal laufenden Menschen - meist Personal, Besucher oder
Ärzte - zwanghaft auf die Beine zu sehen, wie bei ihnen Gehen aussah.
Ich wollte das auch wieder können! Aber
mit Peter würde das dauern. Der tat so, als wäre ich noch jahrelang hier. Seine
stereotype Antwort auf mein Drängen, mir das Gehen beizubringen, lautete:
"Sie dürfen nicht zu ungeduldig sein, Christine (er raffte es bis zum
Schluss nicht, dass am Ende meines Namens ein a und kein e stand, am liebsten
hätte ich Peta zu ihm gesagt, aber jegliche Ironie wäre an diese Trantüte
verschwendet gewesen), wenn man das überstürzt, schleichen sich Gehfehler ein,
die man nie wieder ausmerzen kann." Jaja, du hast gut reden, dachte ich
mir böse, du kannst ja laufen.
Während seiner ausgiebigen Fuß -
Massagen hörte ich ständig von seinen Volleyballturnieren, an denen er teilnahm,
von seinen Mountainbiketouren und Leichtathletikveranstaltungen. Peter war ein
Sportler, konnte aber wohl nicht nachvollziehen, wie schwer es für mich war,
den lieben langen Tag in diesem verdammten Stuhl zu hocken und nicht einmal in
der Bewegungstherapie da raus zu dürfen.
Bei Franzi war die erste Handlung in
der Stunde gewesen, dass ich mich auf eine der Therapieliegen umsetzen durfte. Sehnsüchtig
dachte ich an sie zurück.
Und dann entdeckte ich die "Rennstrecke".
Im ersten Stock befand eine kreisrunde Galerie oberhalb der Cafeteria, die mit
einem hüfthohen durchgehenden stabilen Stahlgeländer abgesichert war. Eines
Tages kam ich auf dem Weg zu einem anderen Fahrstuhl - der, den ich sonst
benutzte, war defekt - dort vorbei und sah zu meinem Erstaunen, dass da ein
leerer Rollstuhl stand und der dazugehörige Besitzer, ebenfalls
halbseitengelähmt, dabei war, die Galerie am Geländer langsam und konzentriert
zu umrunden. Es ging mühsam, er hielt sich mit seiner gesunden Hand gut fest,
machte mit dem gesunden Fuß einen Seitwärtsschritt und zog das betroffene Bein
irgendwie nach, solange, bis er wieder an seinem geparkten Stuhl angekommen war.
Da setzte er sich dann aufatmend rein, während schon der Nächste, der bereits
im Hintergrund gelauert hatte, ans Geländer rollte, sich mühsam hochzog und
ebenfalls seine Runde machte.
Das ist ja idiotensicher, freute ich
mich, die ideale Übungstour! Und
beschloss, dies ebenfalls baldmöglichst und ohne Zuschauer auch
Weitere Kostenlose Bücher