ZITRONENLIMONADE (German Edition)
Therapien aktiv mit und hatten generell eine positive Lebenseinstellung.
Die anderen hatten dieselben
Krankheiten, "suhlten" sich aber förmlich darin. Ihr Motto lautete:
"Ich armes krankes Wesen, mir geht es so schlecht. Seht alle her und
bemitleidet mich!" Sie nörgelten am laufenden Band, über die Ärzte, die
Therapeuten, das Pflegepersonal oder ihre Familienangehörigen. Und sie rührten
keinen Finger, um ihren Zustand irgendwie zu verbessern. Ging sowieso nicht.
Wurde immer schlimmer!
Dreimal dürfen Sie jetzt raten, welche
Gruppe bessere Genesungsfortschritte machte. Womit für mich klar bewiesen war,
dass Gesundheit oder Gesundwerden zu einem nicht unerheblichen Teil Einstellungssache
ist.
An unserm Speisesaaltisch saß seit
vorgestern ein Exemplar der letzteren Gruppe. Hilke, unsere Motorradbraut, war
samt neuer Beinprothese in die Freiheit entlassen worden, wo sie mit Sicherheit
demnächst mit ihrer Harley die Straßen und auch die Gesundheit ihrer
verbleibenden Gliedmaßen unsicher machen würde.
Dafür hatten wir jetzt Irene bei uns.
Damit war das Männer-Frauen-Verhältnis weiterhin ausgeglichen, sonst konnte von
Ausgeglichenheit leider nicht die Rede sein. Irene war dreiundsechzig,
übergewichtig, wehleidig, dauergenervt und ständig am Nörgeln. Sie hatte einen
Autounfall mit einer Gehirnerschütterung gehabt, der bei ihr zu harmlosen
Gedächtnisstörungen geführt hatte. Ab und zu fand sie ein Wort, was sie sagen
wollte, nicht sofort. Dieses "Handicap" betrachtete sie - ungeachtet
dessen, dass es rings um sie herum wesentlich schwerer beeinträchtigte Menschen
gab - als furchtbare Katastrophe.
Gleich bei der ersten Mahlzeit, die sie
mit uns einnahm, langweilte sie uns mit Dauerschilderungen über ihren
"entsetzlichen Unfall" und dessen Folgen, die Unfähigkeit der Ärzte
in der behandelnden Klinik und darüber, wie schlecht sie sich doch fühlte. Wir
anderen sahen uns heimlich mit verdrehten Augen an. Sollte das jetzt jede
Mahlzeit so weitergehen? Da verging einem ja jeglicher Appetit! Unser immer
fröhlicher Senior am Tisch, Herr Klamber, rettete die Stimmung.
"Nana, junge Frau, jetzt lassen
Sie mal die Kirche beim Dorf! So schlimm ist das mit ihren "Wortfindungsstörungen"
doch gar nicht! Sie haben eben zwanzig Minuten ohne Punkt und Komma geredet!
Sollen wir mal einen Wettbewerb hier drin ausschreiben, wem es am schlechtesten
geht? Den würden Sie mit Sicherheit nicht gewinnen!"
Und dann erzählte er genüsslich drei
Hypochonderwitze am Stück. Frank, Marianne, Herr Keller, den wir seit seiner
Läuterung Martin nannten und ich kringelten uns vor Lachen, während Irene sich
wegen der Anrede "junge Frau" sichtlich geschmeichelt fühlte und
etwas ratlos lächelnd in die Runde blickte. Sie verstand die Anspielung des
Witzethemas natürlich nicht und hatte wohl auch mit den Pointen
Schwierigkeiten… Ich musste aufpassen, dass ich sie nicht versehentlich mit
"Melli" ansprach.
Aber auch außerhalb des Speisesaales
traf ich Mitpatienten und machte dabei interessante Bekanntschaften.
Ich war noch ein paar Minuten zu früh
dran für meine Ergotherapiestunde und wartete in meinem Rollstuhl vor der Tür
des Behandlungszimmers. Auf einem der Stühle im Wartebereich saß eine zierliche
ältere Dame, die mir schon öfter in den Gängen aufgefallen war, weil sie immer
sehr gepflegt wirkte und darüber hinaus
eine überaus warmherzige Ausstrahlung
besaß.
Ich grüßte sie, sie lächelte freundlich zurück
und machte mir prompt ein Kompliment. "Sie sind mir schon oft aufgefallen,
da sie so wirken, als würden Sie gleich aus ihrem Stuhl aufstehen und loslaufen.
Ich meine damit", erklärte sie
etwas verlegen, "dass Sie sehr optimistisch und beweglich wirken. Hoffentlich
bin ich Ihnen jetzt nicht zu nahe getreten." Besorgt sah sie mich an.
Erfreut über meine positive Wirkung erwiderte ich: "Im Gegenteil, es freut
mich, dass ich wenigstens so wirke, als würde ich gleich aufstehen und laufen.
Das ist mein sehnlichster Wunsch, aber laut Ärzten und Therapeuten brauche ich
dazu vor allem Geduld, die ich leider nicht besitze." Sie nickte
verständnisvoll.
"Ich bin zwar ein gutes Stück
älter als Sie, aber Geduld ist ebenfalls ganz und gar nicht meine Stärke. Ich
würde auch lieber heute als morgen wieder nachhause gehen." Frau Wallner,
so erfuhr ich, hatte Probleme mit ihrem linken Arm. Nach einem leichten
Schlaganfall konnte sie diesen nicht mehr richtig bewegen, aber "es wird
zusehends
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