Zitronentagetes
Weihnachten sollte man doch die Wahrheit sagen, durchzuckte sie ein Anflug schlechten Gewissens. Andererseits würde sie ihnen das ganze Fest verderben, wenn sie jetzt von der Scheidung berichtete. Der geeignete Moment für Erklärungen war einfach noch nicht da. Bald, nahm sie sich vor, würde sie ihnen reinen Wein einschenken. Es fiel ihr erschreckend leicht, die ganze Angelegenheit auf später zu verschieben.
Heute war Weihnachtsabend und die blöden Menstruationsbeschwerden waren vorerst passé. Der plötzliche Kälteeinfall vor gut einer Woche hatte kein Winterwetter gebracht. Es herrschten eher frühlingshafte Temperaturen, und obendrein nieselte es schon den ganzen Tag. Dies versetzte ihrer weihnachtlichen Vorfreude einen Dämpfer. Natürlich, es waren stets die falschen Erwartungen, die schließlich zu einer Enttäuschung führten. Wie konnte sie auch davon ausgehen, dass es heute schneien würde?
Es waren noch einige Stunden Zeit bis zur Bescherung.
Gerade, als sie beschloss, sich eine Tasse Tee zu kochen, klingelte das Telefon. Das Krankenhaus war dran. Der engagierte Weihnachtsmann lag mit einer Erkältung im Bett. Da sie in letzter Zeit die Kinder so liebevoll betreut hatte, fragte man Floriane, ob sie nicht einspringen könne.
Was gab es da schon zu überlegen? Selbst, wenn sie sich vergegenwärtigte, dass sie weiß Gott von der Statur eines Weihnachtsmannes meilenweit entfernt war, kam eine Absage nicht infrage. Eine Erinnerung, dunkel wie ein Schatten, legte sich auf ihre Schultern, als sie die Klinik betrat. Die Gedanken waberten flüchtig in ihrem Kopf herum, und noch ehe sie sich manifestieren konnten, schob Flo sie vehement zur Seite. Eine Übung, die sie beinahe perfekt beherrschte. Die Erinnerungsfetzen verschwanden, doch das beklemmende Gefühl blieb.
Rasch schlug sie den Weg zur Kinderstation ein. Man hatte natürlich alles versucht, um die Kinder, die wieder halbwegs auf dem Posten waren, zu Weihnachten zu entlassen. Bei zwei kleinen Patienten war das leider nicht möglich gewesen.
Wie nicht anders zu erwarten, war das Santa-Claus-Kostüm viel zu groß.
Die junge, diensthabende Schwester musste lachen bei ihrem Anblick. »Sieht verdächtig nach Magersucht aus«, prustete sie vergnügt.
Sofort brachte sie ein Kissen, das sie Flo um die Hüften drapierte und mit einem Elastikschlauch fixierte. »Das kommt schon besser.« Zufrieden betrachtete sie ihr Werk.
Flo war eher skeptisch. Ein Weihnachtsmann mit mopsiger Taille auf Stöckchenbeinen bot bestimmt einen grandiosen Anblick. Die Schwester reichte ihr ein Paar wuchtige Stiefel, die tatsächlich ihre spindeldürren Beine kaschierten.
»Kann man die an meinen Füßen festtackern, bevor ich diese Melkeimer verliere?« Der dicke Rauschebart, der ihr von hinten über das Gesicht geschoben wurde, verschluckte ihren Einwand.
Kranke Kinder am Weihnachtsabend zu erfreuen, war eine leichte Übung. Womit Flo nicht gerechnet hatte, war, dass man sie auch bat, nach den anderen Patienten zu sehen und ihnen eine kleine Überraschung zu überreichen.
*
Scott Peterson versuchte gar nicht erst, gegen seine widerstreitenden Gefühle anzukämpfen. Was ihn aber wirklich quälte, war, dass Naomi das erste Mal Weihnachten ohne ihre geliebte Mommy verbringen musste. Dass Liza auch nach Weihnachten nicht wiederkommen würde, auch nicht zum Jahreswechsel, zu ihren Geburtstagen, zu Ostern, nicht, wenn Naomi zur Schule kam – überhaupt niemals, war schwer zu begreifen. Für den Bruchteil einer Sekunde traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Scott wischte sich über die Augen.
»Wir müssen Milch und Kekse hinstellen, Daddy, sonst kommt der Weihnachtsmann nicht zu mir.«
Er straffte die Schultern. »Er kommt immer zu braven Kindern. Wir legen trotzdem alles bereit. Du warst doch brav, oder?«
Seine fünfjährige Tochter machte ein nachdenkliches Gesicht und biss sich schließlich in die Unterlippe. »Mommy hat gesagt, ich bin ein ganz liebes Mädchen.« Während sie den Satz aussprach, wurde ihre Stimme immer leiser.
War es möglich, dass ein so kleines Mädchen bereits versuchte, ihren Vater nicht zu verletzen? Bei diesem Gedanken zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.
Naomi sah ihn offen an. Scott drückte sie fest an sich. Er schmiegte sein Gesicht in ihr weiches, nach Himbeerbonbons duftendes Haar. Um ihretwillen tat es ihm am meisten leid. Er trauerte auch um seine Frau, doch gab es da noch ein anderes Gefühl. Eines, das er besser
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