Zitronentagetes
habe ich als Junge immer geträumt – damals, als Mom und ich in der Wohnwagensiedlung lebten.«
Sie verstand ihn nur zu gut. Sie hatte selbst eine Kindheit verbracht, in der es kaum für das Nötigste gereicht hatte. Das war nun vorbei.
»Sie ist jetzt schon so lange tot«, hörte sie ihn leise sagen.
Es freute Liz, dass er längst nicht mehr so verschlossen wie am Anfang ihrer Bekanntschaft war. Was doch die Liebe bewirken konnte. »Sie fehlt dir noch immer.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Tyler nickte. »Sehr.«
Instinktiv umarmte sie ihn. »Darf ich dich um etwas bitten?«
»Liz, das weißt du doch.«
»Danke. Es geht um Marc.«
»Ich wollte ihn längst besuchen, aber derzeit lässt man nur die Familie …«
»Es geht um etwas anderes«, unterbrach sie ihn. »Leider ist es viel komplizierter. Weder ich noch Jefferson kommen an ihn ran. Er hat dichtgemacht, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie hatte jetzt Tylers ganze Aufmerksamkeit. »Dein Bruder ist doch Orthopäde. Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet er in der Unfallklinik in Aspen.«
»Ja, morgen fliegen wir hin und verbringen dort den zweiten Weihnachtstag. Außerdem ist es Zeit, ein paar Tage Urlaub zu machen.«
»Ich weiß, Charly hat so was erwähnt. Würdest du deinen Bruder bitten, sich Marc anzusehen? Er braucht die beste Reha, die er kriegen kann. Nach all dem, was ich über Dr. Rodney Myers im Internet finden konnte, hat er jede Menge Erfahrungen auf dem Gebiet der Oberschenkelamputationen und sich einen guten Ruf gemacht.«
»Und jetzt soll ich den Vermittler spielen?«
»Bitte.«
»Kein Problem.«
»Du bist ein Schatz.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Er sah sie eindringlich an.
»Was ist?«
»Noch immer fühlt sich eine so liebevolle Geste seltsam für mich an.«
Lediglich bei seiner Frau hatte er komplett alle Scheu abgelegt, überlegte Liz.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte Josh, und Tyler fuhr herum.
»Natürlich – Mädels und Rockstars, das ist immer gefährlich«, platzte sie heraus.
Josh zog sie in die Arme und tätschelte ihren Bauch. »Und du bildest dir ein, Tyler steht auf so ein kleines Dickerchen?«
Sie trat ihm gegen das Schienbein und lachte schadenfroh, als er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stelle rieb.
*
Marc war froh, dass dieses verdammte Weihnachten bald vorüber war. Der letzte Feiertag hatte nur noch wenige Stunden, die er schon irgendwie überstehen würde, auch wenn es in seinem rechten, nicht mehr vorhandenen Fuß fürchterlich kribbelte.
Seine Mutter hatte heute eine Einladung zum Kaffee von der Kirchengemeinde erhalten. Alle Menschen aus der Gemeinde, die allein lebten, waren beim Reverend und seiner Frau herzlich willkommen. Ihm zuliebe hätte seine Mutter das Kaffeekränzchen abgesagt, Marc wusste das. Er hatte ihr klargemacht, dass dies absolut nicht nötig war. Immerhin war er erwachsen, ihm würde ein Nachmittag ohne Besuch doch wohl nichts ausmachen. Oder etwa doch? Auf alle Fälle war er ruhelos. Sein Körper war an sportliche Aktivität gewöhnt und verlangte danach. Er erinnerte sich, wie er mit Amy zusammen am Strand entlanggejoggt war. Oder wie viel Spaß sie beim gemeinsamen Surfen gehabt hatten. Vorbei das alles, wegen einer einzigen schrecklichen Sekunde. Er wollte nicht weiter daran denken. Womit konnte er sich ablenken?
Er schaltete den Fernseher ein. Auf allen Kanälen liefen kitschige Weihnachtssendungen. Irgendwo musste doch ein Actionfilm laufen. Na klar, mit einem durchtrainierten Helden. Er lachte nicht amüsiert. So durchtrainiert, wie er einst gewesen war. Resigniert ließ er die Fernbedienung rückwärtslaufen. Ah, hier: »Ein verrücktes Paar« mit Jack Lemmon und Walter Matthau. Die beiden alten Zausel waren wirklich köstlich und entsprachen viel mehr seinem jetzigen Zustand. Allerdings dauerte es nicht lange, bis er eindöste.
Es klopfte an der Tür. »Marc?«
Er öffnete die Augen, nur mit einiger Mühe realisierte er, wo er sich befand. Das durfte doch nicht wahr sein! Vor ihm stand sein Vater nebst engelsgleicher Gattin.
»Marc, Junge …«
Überraschung: Daddy und sein junger Hüpfer. »Sir, entschuldigen Sie, sind wir uns schon mal begegnet?«
»Tu das nicht.« George schüttelte fast unmerklich den Kopf. Hilflos wandte er sich seiner Frau zu.
»Bitte, ich muss …« George räusperte sich. Ansonsten brachte er kaum einen Ton heraus. »Ich weiß, du willst nicht, dass ich hier bin, aber …
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