Zitronentagetes
sag mir, wie es dir geht, bitte.«
Das Flehen in der Stimme seines Vaters war zu viel. Marc hob den Blick. Der sonst stets so beherrschte George Cumberland weinte.
»Prima, mir geht’s prima.« Was als patzige Antwort begann, endete in einem heiseren Schluchzen. Er konnte nicht verhindern, dass er die Fassung verlor. Seine Schultern bebten, die Stimme brach, er weinte, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte. Mit all der Verzweiflung, die er nach der letzten Operation empfand. Sein Vater wiegte ihn in den Armen und hielt ihn fest.
Marc konnte sich nicht erinnern, wann Dad und er sich zum letzten Mal so nahe gekommen waren. Die überraschend große Geborgenheit tat unendlich gut. Einen flüchtigen Moment lang wähnte er sich in der Kindheit, mitsamt der einst starken Verbindung zwischen seinem Vater und ihm. Ein Gefühl, das er unglaublich lange vermisst hatte.
Es dauerte, bis sich Marc beruhigte. Erst dann sah er seinen Vater an. George war alt geworden. Das Haar ergraut, um den Mund und die Augen hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Die Jahre im Knast mussten ihm sehr zugesetzt haben. Der Altersunterschied zu seiner jungen Frau war nun noch grotesker anzuschauen. Marc warf einen raschen Blick zu Jenny, deren Anwesenheit er für kurze Zeit vollkommen vergessen hatte. Jetzt jedoch war ihm sein Weinkrampf peinlich. Die Frau seines Vaters schenkte ihm ein flüchtiges, aber warmherziges Lächeln. Machte sie sich insgeheim über ihn lustig? Wohl eher nicht, aber ein ungutes Gefühl blieb.
»Junge, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Es ist so viel schiefgelaufen.«
»Dad, jetzt bitte keine tiefschürfenden Bekenntnisse. Ich will nichts davon hören, wie leid dir alles tut. Diese Worte wurden in den letzten Tagen bis zum Erbrechen wiederholt.« Marc schwieg für einen Moment. »Ich kann nicht mehr, Dad …«
»Weißt du, ich habe so viel falsch gemacht in meinem Leben. Aber meine Kinder gehören nicht zu diesen Dingen. Ich bin stolz auf sie und liebe sie über alles.«
Marcs Kehle wurde eng, erneut füllten sich seine Augen mit Tränen. Weil er sich Jennys Anwesenheit bewusst machte, wischte er sie hastig fort.
»Du bist stark, Junge. Das habe ich immer an dir bewundert. Es hat mich stolz gemacht. Leider habe ich dir das viel zu selten gesagt und mir auch sonst nichts anmerken lassen. Auch wenn du es jetzt nicht glaubst, weil du sehr verletzt bist, und damit meine ich deinen Körper und deine Seele, wirst du das Ganze überstehen. Bestimmt dauert es lange, aber du schaffst das. Ich stehe dir bei, Marc. Wir stehen dir bei.« George ergriff die Hand seiner Frau. Und diese berührte sacht Marcs Wange. Zum wiederholten Mal ertappte er sich dabei, Jennys verblüffende Ähnlichkeit mit seiner Mutter festzustellen.
»Ich habe dir so viel zu erzählen, Marc. Alles, was mich und deine Mutter betrifft.«
Marc schüttelte den Kopf. So lange hatte er an der Abwehr seinem Vater gegenüber festgehalten, dass sie sich nun nicht so einfach abstreifen ließ.
»Ich weiß, du bist noch nicht bereit dazu, mich anzuhören. Eines hoffentlich nicht mehr allzu fernen Tages wirst du es sein. Der Anfang ist jedenfalls gemacht, oder?«
In Georges Stimme schwang so viel Hoffnung mit, dass Marc kaum etwas anderes übrig blieb, als zu nicken. Sein Vater reichte ihm die Hand und er schlug ein.
*
Aus dem gemeinsamen Krankenbesuch bei Marc wurde nichts. Patrick Reinhold, Irenes Sohn und Kevins Freund hatte am Vormittag angerufen und Kevin für den Nachmittag zu sich eingeladen. Offensichtlich langweilte er sich an Weihnachten ebenso wie ihr Sprössling. Auf ihren kleinen Einwurf bezüglich ihres eigentlichen Vorhabens reagierte Kevin lediglich mit einem Schulterzucken.
Florianes Enttäuschung währte nur kurz. Immerhin wusste sie, wie sprunghaft und impulsiv ihr Sohn war. Als er freudestrahlend nach dem gemeinsamen Mittagessen das Haus verließ, packte sie Plätzchen in eine hübsche Dose.
Bertha brachte ihr Stifte und einen Stapel Zeitschriften mit einem großen Rätselteil.
»Oh, du denkst aber auch an alles«, bedankte sich Flo freudestrahlend.
An der Rezeption in der Klinik saß eine eher sauertöpfische Person, die sie noch nicht kannte. Vielleicht handelte es sich, der Feiertage wegen, um eine Aushilfe. Sie musste mal wieder ihren kleinen Trick anwenden.
»Hallo Liebling«, platzte Flo extra laut heraus.
Marc hob abwartend die Brauen.
»Ich musste mich wieder als deine Verlobte ausgeben. Die
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