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Zivilcourage - Keine Frage

Titel: Zivilcourage - Keine Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Wagner , Constanze Loeffler
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Kind und krakeelte: Er wolle noch feiern, wer hat was zu rauchen, gibt’s bei Jasmin noch was zu ficken usw.
    Im ganzen erschöpften Wagen war er der Störfaktor, in solchen Momenten entsteht ein kollektives Bewusstsein, ein gemeinsamer Wunsch: Kann der Typ nicht endlich mal die Fresse halten. Vielleicht flog ihm beim Drehen und Brüllen was aus dem Mund, denn jetzt warfen die anderen drei ihm vor, er habe sie angespuckt. Während er noch um die Stange rotierte, fingen sie an, ihn ihrerseits anzuspucken, das unterhielt sie eine Weile, bis er schwankend innehielt und einen von ihnen gegen die Tür schubste.
    Und dann ging es los. Erst schubsten sie ihn, dann traten sie ihn, und ich weiß noch, dass ich dachte: Das war ja klar! Zugleich war ich fasziniert und entsetzt, wie wenig ihre Tritte mit denen zu tun hatten, die ich vom Schulhof kannte: viel lauter, viel gezielter, viel schneller. Er ging zu Boden und verschwand aus meinem Gesichtsfeld, und als er wieder hochkam, schlugen sie ihn mit Fäusten, bis ihm Blut übers Gesicht lief.
    Ein- oder zweimal gab es eine kurze Pause, als müssten alle Kraft schöpfen, danach ging es weiter, und bei der nächsten Station stießen sie ihn auf den Bahnsteig. Am Anfang dachte ich: Hoffentlich hört es gleich wieder auf. ›Es‹, wie bei einem Gewitter. Ich hielt den Kopf gesenkt und schaute vorsichtig, was die anderen Leute im Wagen machten. Sie hielten den Kopf gesenkt und schauten vorsichtig. Als ›es‹ nicht aufhörte, dachte ich: Man könnte die Notbremse ziehen (Notrufknöpfe gab es noch nicht, Handys hatten die wenigsten). Aber dann kommen wir alle noch später nach Hause, das wäre auch irgendwie Mist. Dann dachte ich: Scheiß Besoffene. So als wären die vier eine homogene Gruppe und nicht drei Schläger und ein Geschlagener. Der Gedanke, an den ich mich am deutlichsten erinnere, als der Vierte zu bluten anfing: Jetzt ist es eh zu spät. Der Gewaltausbruch dauerte nicht länger als die Fahrt zwischen zwei dicht beieinanderliegenden Stationen der U 7 , vielleicht 90 Sekunden. Genug Zeit, um einzugreifen – kurz genug, um nichts zu tun.
    Zu keiner Sekunde hatte ich Angst vor den Schlägern. Ich hatte Angst, Teil einer Szene zu werden, die ich als peinliches Spektakel empfand. Ich war ein weiterer Großstadt-Idiot, unfähig, seine Schutzzone von Unsichtbarkeit und Anonymität zu verlassen.
    Meine Station war die, bei der sie ihn auf den Bahnsteig stießen. Ich ging durch die andere Tür. Aus etwa zehn Meter Entfernung sah ich, wie er kurz in die Knie ging und sich dann wieder aufraffte. Ein Pärchen auf dem Bahnsteig wich erst zurück und half ihm dann auf eine Bank. Ich ging in die andere Richtung. Vielleicht muss man einmal weggesehen haben, um beim nächsten Mal einzugreifen. Vielleicht muss man einmal feige gewesen sein, um beim nächsten Mal Mut zu haben. Nicht unbedingt aus Zivilcourage. Eher aus Selbstschutz: Um sich nie wieder so zu fühlen wie ich, als ich in jener Nacht nach Hause kam. «

4 Das Naturell des Helfers
    » Wir haben die Maßstäbe in uns, nur suchen wir sie zu wenig. «
    Sophie Scholl
    4.1 | Emphatisch und furchtlos
    Ingo und Oksana Schröder sind in Eile. Sie wollen im Waschsalon noch schnell eine Winterdecke reinigen, die zu Hause nicht in die Maschine passt. Im Waschsalon bemerken sie ein kleines Mädchen auf der Fensterbank: Zitternd, durchnässt, bekleidet mit einem schmutzigen Blümchenkleid, das viel zu dünn ist für diesen kühlen Oktobertag. Die nackten Ärmchen tragen blaue, rote und violette Spuren, Zeichen frischer und älterer Blutergüsse. Vierzehn Menschen waschen ihre Wäsche im Salon. Immer wieder blicken sie verstohlen auf das kleine Mädchen, ihre Mutter und deren Freund. Keiner wagt, etwas zu sagen. Obwohl sich der Mann freundlich gibt, hatte die Situation etwas Bedrohliches, wird Ingo Schröder später sagen.
    Momente wie diesen hat Gott sein Dank noch nicht jeder von uns erlebt. Dennoch kennen wir alle Augenblicke, in denen wir andere Menschen leiden sehen – und ihnen dennoch nicht helfen. Manchmal, weil die Zeit drängt. Manchmal aber auch, weil die Umstände uns bedrohlich erscheinen und uns verängstigen. Momente, in denen wir uns fragen, wo unsere Verantwortung beginnt und die Privatsphäre des anderen endet. Situationen also, in denen unser Eingreifen, unser zivilcouragiertes Handeln gefragt wäre.
    Viele Menschen assoziieren Zivilcourage vor allem mit Heldentaten: das Eingreifen Dominik Brunners in München-Solln,

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