Zivilcourage - Keine Frage
Weg oder für den anderen. Auch in Kreuzberg oder Neukölln, wo der Film spielt, hat man die Wahl – für das Leben oder für das Ghetto.
Heißt Zivilcourage auch, die richtigen Entscheidungen zu treffen?
Zivilcourage bedeutet für mich, den Mut zu haben, aufzustehen. Auszusprechen, dass man mit einem Verhalten oder einer Situation nicht einverstanden ist – ganz gleich, ob es um private oder politische Missstände geht. Und Zivilcourage zu zeigen heißt auch, Schwächeren zu helfen, wenn diese sich nicht selbst wehren können.
Was hat Sie zu diesem Film motiviert?
Ich lebe seit 1992 in Deutschland, kenne das Land aber schon viel länger – und trotzdem bin ich bis heute Ausländer. Die Thematik des Films ist mir daher vertraut, ich habe dazu viel zu sagen.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Ich bin viel in Kreuzberg und Neukölln unterwegs gewesen, habe mit den Leuten geredet, am Tag und in der Nacht. Wenn ein Film authentisch sein soll, muss man die Atmosphäre verinnerlichen, in der er spielt.
Im Film besorgt sich Jordan eine Waffe, um gegen die jugendlichen Gewalttäter gerüstet zu sein. Kritiker haben das als Aufruf zur Gewalt empfunden.
Die Waffe trägt ja letztlich gar nicht zur Lösung des Konflikts bei. Der entscheidet sich doch schon, als die Freundin des Täters, Jessica, das Video ins Netz stellt, das den brutalen Überfall auf Jordan zeigt. Ich glaube nicht, dass sich nach dem Film alle Kreuzberger bewaffnet haben. Im Gegenteil: Einige mögen darüber nachgedacht und festgestellt haben, dass eine Waffe eben keine Lösung ist.
Sie erwecken in Ihrem Film auch Verständnis für die, die nichts tun. Jordans Alt- 68 er-Freunde applaudieren zunächst, als Jordan den Jungen anzeigt. Als sie selbst bedroht werden, wenden sie sich von ihm ab.
Theorie und Praxis sind zwei verschiedene Dinge. Die drei 68 er, die sich in ihrem Leben sicherlich für viele Dinge eingesetzt haben, die sich menschlich und politisch korrekt geben, treten den Rückzug an, als es plötzlich ernst wird. Man will ihnen an den Kragen, da brechen sie ein. Das ist doch das Problem mit der Zivilcourage: Es gibt immer mehr oder weniger gute Gründe, nichts zu tun oder wegzuschauen.
Jordan ist da anders.
Ja, Jordan ist überzeugt und bereit, für seine Prinzipien Opfer zu bringen. Er riskiert dafür sogar den Bruch mit seiner Tochter. Aber er handelt so, weil er gar nicht anders kann. Dass er zur Waffe greift, zeigt nur, in welch großer Bedrängnis er ist. Eigentlich kann er das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Aber genau so ist es eben mit der Zivilcourage: Sie fordert Opfer und kann wehtun.
3.4 | Protokoll des Nichthelfens
Zivilcourage erfordert Mut. Zuzugeben, dass man nicht eingegriffen hat, auch. Der Brigitte -Autor Till Räther schreibt über eine Nacht in der U-Bahn, die ihn bis heute nicht loslässt.
» Vor einigen Jahren habe ich zugeschaut, wie drei Jugendliche einen vierten krankenhausreif schlugen. Das fasst es ganz gut zusammen, obwohl kaum ein Wort stimmt. Vor einigen Jahren? Es muss 1996 oder 97 gewesen sein, lange her also, aber mir scheint es gegenwärtiger als anderes, was ich seitdem erlebt habe. Zugeschaut? Tatsächlich gab ich mir Mühe, woanders hinzugucken. Jugendliche? Ich weiß nicht, ob sie 15 oder 25 waren, sie trugen Kapuzenpullis, hatten kurze Haare und waren besoffen, und je mehr sie zuschlugen, desto altersloser wurden sie. Krankenhausreif? ›Halb tot‹ wäre übertrieben. Ich jedenfalls hätte in dem Zustand ein Krankenhaus aufgesucht.
Es war an einem Wochentag in einer sehr späten U-Bahn, zwischen eins und halb zwei. Der Wagen war höchstens halb voll, die übliche Berliner Mischung aus müden Arbeitnehmern nach der Spätschicht, langsam ausbrennendem Partyvolk und ein paar vereinzelten Studenten, die aus einem Spätfilm kamen. Wer konnte, saß allein.
Die vier Jugendlichen standen an der Tür, ich war schon beim Einsteigen einen Umweg gegangen, um nicht an ihnen vorbeizumüssen: Großstadt-Instinkt. Ich setzte mich so, dass ich sie im Blick hatte, denn ich wollte sie nicht im Rücken haben. Selbst aus dem Augenwinkel war die Konstellation leicht zu durchschauen: Drei von ihnen wollten mit dem Vierten nichts zu tun haben, sie kannten einander zwar, gaben ihm aber klar zu verstehen, dass seine weitere Teilnahme an der Abendgestaltung unerwünscht war: Verpiss dich, du stinkst, mach den Kopp zu. Der Vierte konnte sich kaum auf den Beinen halten, er drehte sich um die Mittelstange wie ein
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