Zivilcourage - Keine Frage
oder der anderen Person zustehendes Recht wahrzunehmen, einzufordern oder zu erstreiten.
Gabriele Mester ist mit ihrem Auto unterwegs, als sie auf einem Feldweg ein Motorrad und ein Fahrrad liegen sieht. Plötzlich kommt ein Mann aus dem Gebüsch. Mester hält an und läuft zum Feld, wo sie ein bewusstloses Mädchen findet. Später stellt sich heraus, dass der Mann versucht hatte, die Elfjährige zu vergewaltigen und zu erdrosseln. Der Richter verurteilt den Täter – auch auf Grund Mesters genauer Personenbeschreibung – zu elf Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
Wie wir eingreifen
Wenn Menschen helfen, geschieht das normalerweise spontan; in Bruchteilen von Sekunden entscheiden sie sich, was zu tun oder zu lassen ist. Danach läuft bewusst oder unterbewusst ein vierstufiger Prozess ab. Auf die Entscheidung zu helfen wirken sowohl situationsbezogene als auch persönliche Einflüsse.
Als Erstes stellt der Helfer fest, dass gerade etwas vor sich geht. Er versucht, sich Klarheit über die Vorgänge zu verschaffen und die Lage ein- und abzuschätzen. Dann wägt der Helfende ab: Handelt es sich um einen Notfall, wird meine Hilfe tatsächlich gebraucht? Nun fragt er sich, ob er eine Verantwortung trägt. Davon hängt ab, ob er eingreift oder nicht. Im letzten Schritt entscheidet er über sein Vorgehen. Ist er überhaupt in der Lage zu helfen oder bringt er sich möglicherweise selbst in Gefahr?
Nicht jede Hilfe ist selbstlos
Zivilcourage, selbstloses Handeln oder Geben: Für diese Themen interessierten sich auch einige Philosophen wie Friedrich Nitzsche, Paul Ricœur oder Søren Kierkegaard. Sie fragten sich: Kann Hilfe überhaupt selbstlos sein oder erwarten Helfer und Gebende grundsätzlich eine Gegenleistung? Holen sich Prominente und Reiche auf Wohltätigkeitsveranstaltungen lediglich Anerkennung? Beruhigt der weihnachtliche Scheck für das Kinderhilfswerk das persönliche Gewissen? Geben wir dem Obdachlosen fünf Euro, um uns ein wenig besser zu fühlen?
Warum jemand hilft, kann nur jeder für sich selbst beantworten. So seltsam es klingen mag: Es gibt auch Hilfe aus Kalkül. So greift der eine oder andere Helfer aus reiner Geltungssucht ein. Er wünscht sich Anerkennung, fühlt sich gut, im Mittelpunkt zu stehen, oder spekuliert sogar auf eine Auszeichnung.
In den meisten Fällen aber setzen sich Menschen für andere ein, weil es ihnen eine Herzensangelegenheit ist oder ihre Persönlichkeit ihnen keine andere Wahl lässt. Das Engagement, das einer ideologieerfüllenden Solidarität oder herablassenden Barmherzigkeit entspringt, ist wohl eher selten. Am besten wäre es natürlich, wenn wir alle aus freien Stücken helfen würden. Also ohne dass wir daraus einen Gewinn ziehen. Das Helfen um des Helfens willen, ohne Hintergedanken. Sicherlich helfen die meisten Menschen aus einer positiven Motivation heraus. Für das Opfer ist das Motiv des Helfers jedoch nicht entscheidend. Denn ihm bringt es mehr, wenn jemand aus Eigeninteresse handelt, als sich tatenlos vom Geschehen wegzuschleichen.
Ein Mann auf einem Motorroller rast einen Fußweg entlang. Ein Pärchen kann gerade noch zur Seite springen. Der Mann ruft dem Verkehrssünder hinterher, dass das Fahren auf dem Fußweg nicht erlaubt sei. Daraufhin geht der Fahrer auf die Fußgänger los. Er streckt die Frau mit einem Fausthieb nieder. Danach prügelt und würgt er den Mann. In diesem Moment kommt Petar Link vorbei. Er zieht den Angreifer sofort weg, ruft Notarzt und Polizei. Dem Mann rettet Link damit wahrscheinlich das Leben.
Motive, Chancen und Hindernisse für Zivilcourage
Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete interessieren sich aber noch für eine andere Frage: Gibt es biographische Ähnlichkeiten zwischen Menschen, die selbstlos auf andere zugehen? Woher rührt ihre Nächstenliebe?
Erste Hinweise darauf lieferten Interviews, die Forscher mit den sogenannten Judenrettern führten. 15, 16 Diese Leute versteckten Juden während des Zweiten Weltkriegs oder halfen ihnen bei der Flucht. Die meisten Retter hatten damals keine andere Wahl: Sie wurden plötzlich mit einer Notsituation konfrontiert – und handelten spontan. Andere entschieden sich zu helfen, weil das ihren Idealen, Moralvorstellungen und ihrem Gefühl der sozialen Verantwortung entsprach; sie konnten und wollten das Leid der Juden nicht akzeptieren. Wieder andere setzten sich ein, weil sie die Opfer gut kannten oder gar mit ihnen befreundet waren.
Auch Gerd Meyer
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