Zivilcourage - Keine Frage
Rinnentor, den sozialen Brennpunkten der Stadt. Schüler sind darunter, aber auch Arbeitslose und Jugendliche ohne Bleibe. Einige sind Albaner, andere Türken oder Deutsche. In Bensheim sieht man es nicht gern, wenn sie in der Stadt abhängen. Viele ältere Menschen meiden abends diese einschlägigen Orte. Sie haben Angst vor den Jugendlichen.
»Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal zu ihnen hinüberging. Mein Herz klopfte mit jedem Schritt ein wenig schneller. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, wie sie reagieren würden. Mit jedem Meter wurde mir klarer, dass ich keine Idee hatte, wie ich es anstellen musste. Ich wusste nur, dass ich mit ihnen reden würde. Viele dieser Jugendlichen haben kein Zuhause, sie haben keine intakte Familie. Sie haben keine Perspektive, keinen Ort, an dem sie sein dürfen. Als ich in ihrer Mitte eintraf, wurde es still. Ein junger Mann fasste sich ein Herz und sprach mich an. Guten Abend, Herr Saremi, es tut uns unendlich leid, was mit Ihrem Sohn passiert ist. Da fiel mir ein Stein vom Herzen. Sie wussten, wer ich bin. Ich wusste, sie würden mich respektieren.
Seitdem gehe ich jedes Wochenende an ihre Treffpunkte. Wenn sie zu laut sind, sprechen wir. Oft packen sie ihre Rucksäcke, wenn sie jemanden kommen sehen, wollen gleich abhauen. Aber ich halte sie auf. Ihr müsst nicht gehen, es ist auch eure Stadt. Aber seid leise und redet nicht so aggressiv und grob. Stellt euch vor, eure Mütter und Schwestern hören die Worte, die ihr benutzt. Ich rede mit ihnen, ich nehme mir Zeit, sie verstehen mich. Dann ist meist Ruhe.
Diese Jugendlichen brauchen Liebe und Zuwendung. Sie sollen das Gefühl bekommen, da ist jemand, der sich für sie interessiert. Die einzige Waffe, die sie haben, sind ihre Schimpfwörter und Aggressionen. Ich höre ihnen zu, ich beruhige sie, wirke auf sie, ohne dass sie es merken. Ich versuche, mich auf sie einzulassen. Ich bin erwachsen, mir gelingt das. Umgekehrt funktioniert das nicht, und ich erwarte es auch nicht. Sie haben Vertrauen gefasst mit der Zeit. Ich habe sie eingeladen, sie können jederzeit zu uns kommen. Mein Haus steht allen offen, wie früher, daran hat auch Fabians Tod nichts geändert. Manchmal kegeln sie bei uns auf unserer Kegelbahn. Sie haben große Fortschritte gemacht. Im Sommer wollen wir eine Jugendmannschaft aufstellen.
Warum ich das mache, nach alldem, was passiert ist? Ich möchte etwas für sie tun. Ich erwarte nichts von ihnen, aber ich freue mich, wenn sie meine Hilfe annehmen. Es stimmt nicht, dass wir nichts machen können, wie so oft gesagt wird. Wer soll sich um die Jugend kümmern, wenn nicht wir? Sie gehören zu unserer Gesellschaft. Sie sind doch unsere Kinder.«
6 Vom Staat im Stich
gelassen
» In allem Unrecht, das geschieht,
ist nicht nur der schuld,
der es begeht, sondern auch der,
der es nicht verhindert. «
Erich Kästner
6.1 | Kriminelles Deutschland – Mythos oder Wahrheit?
Nahezu täglich erfahren wir über neue Grausamkeiten, Gewalttaten und Überfälle. Wer die Meldungen im Internet, in der Presse und im TV verfolgt, kommt leicht zu dem Schluss: Die Kriminalität in Deutschland muss in den letzten Jahren stetig gestiegen sein. Insbesondere die gewaltsamen Straftaten scheinen zuzunehmen; immer häufiger reagieren Täter ohne echten Anlass aggressiv und brutal.
Doch ist das wirklich so? Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik 2009 (PKS) zeigt: Nein. Deutschland wird immer zahmer. Sowohl die Gesamtzahl der Straftaten als auch die Zahl der Gewalttaten sanken. Und damit nicht genug: Die aktuellen Zahlen sind mehr als eine Momentaufnahme. Sie setzen den erfreulichen Trend der letzten Jahre fort. Woran liegt das?
• Der demografische Wandel senkt die Kriminalitätsrate. Deutschland altert: Es gibt weniger gefährliche junge Männer, mehr harmlose Senioren und damit mehr innere Sicherheit.
• Die Polizei arbeitet effizienter: Im Jahr 2007 konnten 20 Prozent mehr Straftaten aufgeklärt werden als noch im Jahr 1993 . Die höhere Erfolgsquote bei der Aufklärung scheint auf die Täter zunehmend abschreckend zu wirken.
• Die Migrationssituation hat sich verändert; es wandern immer weniger Menschen aus anderen Ländern zu.
• Die Gewaltbereitschaft in Familien und Schulen sinkt.
• Das kriminalpräventive Engagement der letzten Jahre zeigt Wirkung.
Anteil der 14- bis 30-jährigen Männer zur Wohnbevölkerung insgesamt bzw. zu allen Tatverdächtigen ausgewählter Delikte
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