Zoë
mir das Buch gefallen würde, das Sie mir gegeben haben?«, fragte ich sie einmal.
»Ich wusste es gar nicht. Ich habe dir einfach eins gegeben, das ich gern mag, und gehofft, dass es dir auch gefällt.«
»Das hat es, sehr sogar. Ich mag solche Waisengeschichten.«
»Waisengeschichten?«
»Na ja, Bücher über Kinder, die allein klarkommen, ohne Eltern, die sie daran hindern, Abenteuer zu erleben.«
Ich erzählte ihr von Büchern, die ich liebte, und das waren nicht nur Bücher von Waisen im klassischen Sinn – Kindern wie Mogli oder wie Mary Lennox aus Der Geheime Garten –, sondern Waisen aller Art: Kinder mit nur einem Elternteil wie Huck Finn oder wie Jem und Scout Finch aus Wer die Nachtigall stört, Opal Buloni aus Winn-Dixie ; Kinder, deren Eltern verschwunden waren, wie Charles Wallace und Meg Murry aus Die Zeitfalte ;gestohlene oder verloren gegangene Kinder wie Peter Pan und die Verlorenen Jungen; Kinder wie Lyra aus Das magische Messer , deren Eltern so wenig hilfreich waren, dass sie ebensogut hätten tot sein können; und selbst verwaiste Tierkinder wie Rascal rechnete ich dazu, ebenso wie quasi-verwaiste Erwachsene wie Robin Hood, den König Richard im Stich ließ, weil er ständig auf irgendeinem Kreuzzug war.
»Du hast den Instinkt einer Schriftstellerin«, flüsterte Ms Avery verschwörerisch.
Sie reichte mir ein dickes Notizbuch mit rotem Ledereinband, auf dem in goldener Schrift Tagebuch stand. Ein Tagebuch zu führen war ein Teil meines selbstständigen Arbeitens. Ohne meine Erlaubnis durfte es niemand lesen, auch nicht Ms Avery, sie verließ sich aber auf mich, dass ich jeden Tag hineinschrieb. Mein altes Spiralheft war fast voll, und ich war froh, jetzt dieses neue, hübschere Buch zu haben. Ms Avery bot mir an, mein Tagebuch während des Unterrichts in ihrem Pult einzuschließen. Außerdem bekam ich eine Aufgabe von ihr, mein erstes selbstständiges Projekt: Ich sollte vor der Klasse einen Vortrag über mein Leben mit Henry und seinen Skulpturen halten.
»Den anderen Kindern wird das gefallen«, sagte sie. »Sie werden Henry kennenlernen, vor allem aber dich.«
In dem Moment war ich drauf und dran, ihr von der Hütte zu erzählen, ich platzte nämlich fast vor Stolz. Aber dann habe ich es doch lieber in mein nagelneues Tagebuch geschrieben, denn tief in mir war ich überzeugt, dass man Gefahr lief, etwas zu verlieren, sobald man darüber redete, und das wollte ich nicht riskieren. Die Hütte war mein ganz spezieller Ort, etwas, was ich mit niemandem teilte.
Jedenfalls dachte ich das, naiv, wie ich war.
10
Der Tag, an dem ich herausfand, dass die Hütte mir nicht allein gehörte, war insgesamt ein seltsamer Tag.
Mitte November, zwei Wochen vor Erntedank, war der Winter endgültig da. Fast jeden Tag gab es eisglatte Straßen durch gefrierenden Regen, oder es war so bitterkalt, dass einem fast die Finger abfroren, und schon gegen fünf Uhr nachmittags ging die Sonne unter. So kam ich immer weniger zu meiner Hütte, denn entweder war es nass und kalt oder gruselig dunkel, und wenn ich mal da war, fühlte ich mich unkonzentriert, immer auf dem Sprung. Es kam mir so vor, als hätte ich gerade mal Zeit, Feuer zu machen und ein Stündchen zu lesen oder zu schreiben, dann musste ich mich auch schon wieder auf den Rückweg machen, weil es dunkel wurde oder das Wetter schlecht war. Ich hatte einen direkten Weg ausfindig gemacht, der nicht steil war und auch nicht durch Brombeergestrüpp führte, trotzdem brauchte ich fünfzehn bis zwanzig Minuten, selbst bei gutem Wetter. Bei richtig schlechtem Wetter blieb ich lieber gleich im Haus.
Als ich an jenem speziellen Samstag aufwachte, klapperten die Fenster im Sturm. Die Bäume bogen sich, und etliche Skulpturen schüttelten sich und klimperten im Wind. Henry war schon früh draußen und sicherte mehrere Arbeiten, damit sie nicht umgeweht wurden. Am späteren Vormittag rauschte der Regen von den Dachtraufen, und als wäre das noch nicht schlimm genug, lag ich auch noch mit einer Erkältung im Bett, und uns war »schlechte Gesellschaft« auf die Bude gerückt, wie Fred sich ausdrückte.
Die Besitzer der New Yorker Kunstgalerie, die Henrys Arbeiten verkaufte, waren unangekündigt bei uns aufgetaucht, gleich nach dem Frühstück. Mr Sasser, der Gründer der Galerie und ein alter Freund von Henry, war im vergangenen Jahr gestorben und hatte die Galerie seinen grässlichen Sprösslingen Lillian und Sid hinterlassen. Als ich die beiden
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