Zone One: Roman (German Edition)
hätte Onkel Lloyd geliefert? Was wusste sein Onkel inzwischen, das er vor dem Zusammenbruch noch nicht gewusst hatte? Nichts. Nichts, was Mark Spitz nicht schon im Ödland entdeckt hatte.
Auf Mark Spitz’ Bedenken hin befestigte Gary ein unsichtbares Headset an seinem Ohr und sagte: »Lieutenant, hören Sie mich? Wir brauchen unsere Befehle. Überlassen Sie uns nicht Fabio, Mann.«
Gary hätte sich an seine Brüder wenden können, wenn er imstande gewesen wäre, von seiner Weigerung, an ihren Tod zu glauben, abzusehen und ihr ein Schnippchen zu schlagen. Nach Mark Spitz’ Einschätzung war jede Séance zum Scheitern verurteilt, selbst wenn die junge Hellseherin richtig funktioniert hätte und noch im Besitz ihrer Fähigkeiten gewesen wäre. Er war in so mancher kalten Nacht die missglückten Beweise für ein Leben nach dem Tod durchgegangen. Am Ende des Lebens war eine Barriere, ja, aber auf der anderen Seite war nichts. Wie denn auch? Die Seuche brachte das Herz zum Stillstand, der Wesenskern löste sich von dem armseligen menschlichen Fleisch und paddelte durch das Ektoplasma oder was auch immer, und dann startete die Seuche das Herz neu. Was für eine grausame Gottheit gewährte einen flüchtigen Blick auf die Sphäre der Engel, nur um sie einem dann zu entreißen und einen zur Perspektive eines Monsters zu verdammen? Verurteilte einen dazu, die Welt durch die traurige Blende der Toten zu betrachten, die krasse Parodie der eigenen Existenz zu erleiden. Außerhalb von Zone One saßen die Seelen auf den Tribünen gefangen, Zuschauer der von ihren entfremdeten Händen begangenen Travestien.
Der Tod des Jenseits war jedoch nicht ohne Reize, denn er ersparte Mark Spitz die Aussicht auf eine Ewigkeit, in der er seine Fehler immer wieder erleben musste, mitansehen musste, wie ihre Auswirkungen, wie kurz und sinnlos auch immer, sich durch die Geschichte fortsetzten.
»Bei der Zigeunerin sind ein paar Schrauben locker«, sagte Gary. Er hob ihre schlaffe Hand und ließ deren totes Gewicht auf den Tisch fallen.
Kaitlyn trat wieder zu ihnen. »Sieht so aus, als hätte sie angefangen, dahinten zu wohnen, als es losgegangen ist.« Angesichts des Tableaus, das sich ihr bot, schüttelte sie den Kopf, war jedoch außerstande, echtes Entsetzen zu empfinden. Es war ein langer Tag gewesen. »Du bist pervers, Gary.«
»Gibt’s nichts, was du gern fragen würdest, Kaitlyn?« Erneut packte er die Hand der Wahrsagerin. »Willst du nicht wissen, wann dir der Richtige begegnet?«
»Irgendwann wird schon einer anbeißen –«
»Falsches Wort.«
Seine Kameraden verfielen in die Ausgelassenheit des »Was bin ich?«-Spiels. Mark Spitz nahm sich vor, sich zu entspannen. Es waren zwei heftige Tage gewesen, zuerst die Sache in der Personalabteilung, dann, dass der Lieutenant den verbotenen Gedanken in die Tat umgesetzt hatte. In einer halben Stunde würden sie in Wonton und der Erneuerung der Welt wieder eine Woche näher sein. Er spürte jedoch etwas in seiner Haut, eine ganz schwache Vibration.
Kaitlyn fragte: »Werden die Drillinge es schaffen?«
»Was ist los, hat die Seuche deine Zunge verschluckt? … Moment mal, irgendwas empfange ich …« Gary improvisierte mit zusammengekniffenen Augen. »Drei tapfere Seelen …«
»Cheyenne, Blödmann. Ist Cheyenne okay?«
»Die Antwort lautet … Ja!«
»Du lieber Gott.«
Mark Spitz fragte: »Werden wir es schaffen?«
Gary öffnete ein Auge und grinste. »Moment, ich frage mal eben nach … Liebe Wahrsagerin, kannst du uns helfen, die Zukunft zu sehen?«
Wir schaffen die Zukunft, dachte Mark Spitz. Deswegen sind wir hier.
»Es ist alles verschwommen«, sagte Gary. Er konzentrierte sich stärker, seine Hand zitterte. »Eigentlich willst du doch wissen, ob du es schaffst, stimmt’s?«
»Ja.«
»Einen Moment …« Garys Körper verkrampfte sich, ein heftiger, übernatürlicher Strom fuhr in die Stelle, wo seine Haut und die der Wahrsagerin sich berührten. Der Mechaniker konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, während er per empfindlicher Verbindung mit den Kräften der Geisterwelt rang. Zum ersten Mal fiel Mark Spitz das fast unmerkliche Lächeln auf, das in die schwarzen Lippen der Wahrsagerin eingraviert war, als fände auch sie Vergnügen an dem Witz oder an einem ganz anderen Scherz, dessen genaue Beschaffenheit und Textur nur sie selbst zu würdigen wusste. Gary sackte auf dem Tisch zusammen, schlachtete den Augenblick aus und hob dann müde den Kopf. »Die sagen, dass
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