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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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einzige Seite im Fotoalbum dieser Adresse, die er sehen konnte, war die, die er jetzt vor sich hatte.
    Die Eigentümerin saß an dem Tisch in der Mitte des Raums. Diese Irrläuferin verzichtete auf den traditionellen Putz ihres Berufsstandes und trug die durchweg schwarze Kluft eines Downtown-Punks. Sie war etwa in Mark Spitz’ Alter, noch keine dreißig, als die Seuche sie in ihrem Bernstein eingeschlossen hatte, mit grünen Strähnen in ihrem tiefschwarz gefärbten Haar und verschmiertem Mascara, das die von der Seuche herrührenden Blutergüsse um ihre Augen noch hervorhob. Die Schilder an den Wänden boten in einer beliebten Computer-Schriftart eine Auswahl an Dienstleistungen: astrologische Diagramme, Numerologie, Aura-Beeinflussung und das rätselhafte »Rekalibrierung«. Auf winzigen Metallborden standen kleine Gläser und Schalen mit Kräutern, Pulvern in allen Regenbogenfarben und knochenweißen Amuletten, von einer Internet-Einzelhandelsseite erworbene Requisiten. Rote und braune Erdtöne dominierten Wandbehänge, Kissen und Teppiche und sorgten für eine Aura von Tierhöhle. Omega stand vor dem Allerheiligsten eines Mediums, wie es in der Popkultur porträtiert wurde, wobei das Erscheinungsbild der Hellseherin selbst gewissermaßen das notwendige leichte Kneifen beisteuerte. Die Wahrsagerin, die in der modernen Großstadt die Zauber der alten Welt und das Gewerbe ihrer Ahnen praktizierte. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern gedacht, sie habe ihr Erbe verraten, als sie mit dem Ring in der Nase nach Hause gekommen war, dabei war er nur eine Anpassung, die es dem Familiengeschäft ermöglichte, mit der vielgestaltigen Stadt Schritt zu halten. Jeder braucht eine Masche, um konkurrenzfähig zu bleiben, dachte Mark Spitz.
    Unter dem rechten Ohr fehlte der Wahrsagerin ein Stück Hals. Das bloßliegende Fleisch ähnelte aufgerissenem und rotgefärbtem Straßenpflaster, ein verschorftes Loch aus klaffendem Knorpel, Schläuchen und Röhren: die aufgerissene Haut der Stadt. Sie hatte ihren alten Arbeitsplatz aufgesucht, die Hände flach auf dem dunkelroten Tuch, das auf dem kleinen runden Tisch lag. Es gab zwei Stühle, ihre Botschaften waren jeweils nur für einen Menschen gedacht.
    Kaitlyn sagte: »Ich sehe mal hinten nach«, teilte mit ihrem Sturmgewehr den Vorhang aus roten Perlen und zog sich in die hinteren Winkel des Ladens zurück.
    Gary kicherte boshaft.
    Mark Spitz sagte : » Scheiße noch mal . « Sein neuer Grundsatz machte sich geltend: Je eher man die Irrläufer erledigte, desto besser. Sie waren nicht die verkitschten Engel des Lieutenants, die durch das schlichte Faktum ihrer Existenz obskure Lektionen vermittelten, und Mark Spitz’ Impuls, Ned den Kopierfuzzi auf seinem Posten in dem leeren Büro zu lassen, war keine Gnade. Die Dinger hatten mit dem, was sie einmal gewesen waren, nichts mehr zu tun, sondern sie waren Ungeziefer, das vernichtet werden musste. Warum hatte er gezögert?
    Gary stellte seinen Rucksack ab, ließ sich auf dem Stuhl des Suchenden nieder und streifte sich mit theatralischer Gebärde die Spezialhandschuhe ab. Er legte die blasse, leicht graue Hand der Eigentümerin auf seine Handfläche. »Bloß eine schnelle Voraussage, Mark Spitz«, sagte Gary. »Es gibt Dinge, die wir wissen müssen.«
    »Das ist respektlos«, sagte Mark Spitz. Er hob sein Gewehr; Gary winkte es zur Seite. Zwar neigte er nicht dazu, Schindluder von dem Kaliber zu treiben, das man von seinen alten Banditenkumpeln kannte, aber das hieß nicht, dass Mark Spitz dabei Zeuge sein wollte, und ein Skel lächerlich zu machen hatte nur Sinn, wenn man einen Zeugen hatte. Mark Spitz konnte die Ursache seines Widerwillens nicht dingfest machen, und es widerstrebte ihm, ihn mit der Fürsorglichkeit gegenüber Ned am vorigen Nachmittag in Verbindung zu bringen. Er war zu müde, um sich die zusätzliche Last neuer Symptome aufzuladen.
    Während sich seine Hand in ihre schmiegte, fanden Garys schwarze Fingernägel ihre Entsprechung in dem roten Grieß unter denen ihrer Gastgeberin. Wahrheitssuchender wie Wahrsagerin hatten sich durch ihre jeweilige Friedhofserde gewühlt. Gary zog die Augenbrauen hoch. »Gibt’s im Jenseits jemanden, mit dem du reden willst, Mark Spitz?«
    Ein paar Häuserblocks jenseits der Mauer schwebte neunzehn Stockwerke über der Straße die Wohnung seines Onkels, eine pulsierende Präsenz. Mark Spitz brauchte kein Medium; Leuchtraketen und Winkspruch hätten genügt. Welche Offenbarung

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