Zone One: Roman (German Edition)
Abschiedsbrief erwähnte diese Mitbewohnerin an prominenter Stelle und stellte Mutmaßungen über ein gemeinsames Nachleben von Mensch und Tier an, das keinen Unterschied zwischen den Arten kannte und nicht den Besitz eines Gehirns zur Voraussetzung machte, das groß genug war, um sich ein Nachleben vorstellen zu können. Keiner der beiden Selbstmörder war gebissen worden; sie hatten ihrem jeweiligen verbotenen Gedanken nachgegeben.
Omega steckte die beiden Nachbarn in Säcke und legte sie für den Entsorgungsdienst auf die Straße. Die Glückskatze kam zu ihrem Besitzer in den Sack.
Die Wahrsagerin war die letzte Säuberungsaktion des Tages. Es war kurz vor sechs. Kaitlyn schlug vor, am nächsten Tag hier weiterzumachen, aber Gary sagte: »Ich will mir aus der Hand lesen lassen.«
Mark Spitz war vollkommen unerfindlich, wie dieses offenbar unsterbliche Überbleibsel von einer Ladenfront die unaufhörlichen städtischen Erneuerungen überstanden hatte. Die einzige Antwort lautete, dass die Stadt selbst von der Vergangenheit ebenso behext war wie die kleinen Geschöpfe, die auf ihrem Rücken herumwuselten. Die Stadt weigerte sich, sie ziehen zu lassen: Wie sonst waren sie zu erklären, die nicht totzukriegenden kleinen Geschäfte in einem Häuserblock nach dem anderen, in sentimentalen Inseln im gesamten Planquadrat? Diese Läden hatten jeden Morgen geöffnet, um eine Kundschaft zu bedienen, die schon vor dem Wüten der Seuche ausgestorben war, hatten hinter beschmutztem Glas Gegenstände von keinerlei Nutzen auf Filz zur Schau gestellt, sie an Stahlhaken aufgehängt, wo Staub anhaftete und Kolonien bildete. Auslaufartikel, ausgerottete Wünsche. Die Stadt beschützte sie, dachte Mark Spitz. Die Schreibmaschinenreparaturwerkstatt, die Schusterwerkstatt mit ihrer antiquierten Kalligraphie und offenbaren Inkompetenz, die die Neugierigen abschreckte, das Familien-Deli mit seinem bakterienverseuchten Kuchenblech: Mit ihren verblassten Ladenschildern und auf neunundneunzig Jahre abgeschlossenen Pachtverträgen hielten sie an dem Häuserblock fest und murmelten miteinander in einer sterbenden Mundart der Nostalgie. Geschäfte nördlich und südlich, zu beiden Seiten von ihnen verkauften die neuen Sachen, die Chromdinger, die die Menschen brauchten, während die City-Blocks diese alten Läden hegten und pflegten, sie bei sich behielten wie ein Geheimnis oder einen Tumor.
Der Laden der Wahrsagerin war genau so ein atavistisches Unternehmen, ein Irrläufer, wie es im aktuellen Jargon hieß, mit sich auflösendem Talmi, das hinter den in Schablonenschrift auf das Schaufenster geschriebenen, billigen Ermahnungen stumpf schimmerte. Den unteren Rand der Schaufensterauslage bildeten Girlanden von Weihnachtslichtern und schwarze Colliers aus toten Insekten. Jeder andere Laden in dem Häuserblock befriedigte irgendein Yuppie-Bedürfnis, bog sich der lokalen demographischen Sonne entgegen und nahm in seine Kapillaren importierte Küchengeräte und hochwertige Kinderausstattung auf. Doch hier war der Laden der Wahrsagerin. Hätten die Ereignisse sich anders abspielen können? Wenn Bravo das Planquadrat Fulton und Gold, ein Wohn- und Geschäftsviertel, bekommen hätte, dann hätte die Mischung von Charakteren in dieser anderen Einheit den Ereignissen vielleicht eine andere Richtung gegeben. Wenn es nicht Omegas letzter Halt vor dem Feierabend gewesen wäre, dann wäre Gary vielleicht nicht in so fröhlicher Stimmung gewesen und hätte nicht herumgekaspert. Später entwirrte Mark Spitz den Strang von Zwangsläufigkeiten. Er sah aus wie eine Halskette aus toten Fliegen.
Gary knipste den Riegel durch, und Mark Spitz half ihm, das widerspenstige Scherengitter des Ladens hochzuschieben. Der dunkle Türgriff aus Messing und das Schloss waren Relikte, von der Liebkosung unzähliger Hände zu einem jenseitigen Schimmer blankgerieben. Mark Spitz sah nicht, dass dieser kitschige Laden viel Suchende angezogen hatte, aber wer wusste schon, was für wichtige Läden hier residiert hatten, ehe die Hellseherin ihre Arkana ausgepackt und die geheime Linie von Nützlichkeit und Verlangen bei dieser Adresse geendet hatte. Immobilienmakler, Metzger, Juweliere und Handyanbieter standen hinter der Theke und bedienten Kunden, die weiche Filzhüte, dann Metallringe in weichem Gewebe trugen. Reifröcke, Strumpfhosen, dann blaue Tinte, wo ihnen die Symbole der Parvenü-Religionen und die Bildersprache der Außenseiter in die Haut gestichelt waren. Die
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