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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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alles in Ordnung kommt, Mark Spitz. Du brauchst dir über gar nichts Sorgen zu machen.«
    Um kein Spielverderber zu sein, gab sich Mark Spitz übertrieben erleichtert. Auf der Straße hatte seine Asche zu fallen begonnen, seine Vorreiterflocken.
    »Okay, hoch mit dir, Gary«, sagte Kaitlyn, »erledigen wir das hier.«
    »Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt«, sagte Gary. Er hob die Finger von der Hand der Wahrsagerin, und in dem Augenblick, in dem er sie losließ, packte sie seine Hand und biss tief in das Fleisch zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen. Blut spritzte, stockte, spritzte erneut mit dem Schlag seines Herzens. Der Mund der Wahrsagerin mahlte hin und her, riss und kaute, und sie schlang seinen Daumen hinunter.
    Kaitlyns Kugeln zertrümmerten ihr den Kopf, sie sackte auf den Boden und spie die dunkle Flüssigkeit in ihren Adern auf das Pressspan-Bücherregal zum Selberbauen, das mit ihren okkulten Schätzen gefüllt war. Bevor ihr Gesicht zu Brei wurde, kehrte das Lächeln auf ihre blutbespritzten Lippen zurück: ein breiter, zufriedener Halbmond aus Zähnen. Bildete sich Mark Spitz jedenfalls ein.
    Er kümmerte sich um Garys Wunde, während Kaitlyn fluchend vier weitere Schüsse auf die Wahrsagerin abgab. Garys Entsetzens- und Schmerzensschreie wurden zu einer Forderung nach Anticiprant. »Gib mir den Scheiß, wo ist der Scheiß, gib mir den Scheiß«, schrie er, während seine Hände hektisch über seine Weste fuhren. Mark Spitz fand den Antibiotikavorrat seines Freundes in derselben Tasche, die auch seinen Wochenbestand an Stimmungsaufhellern enthielt. Gary schlang das Anticiprant, dann den Vorrat von Mark Spitz und den von Kaitlyn hinunter. Er brüllte.
    Es war Folklore, die Megadosis Medikamente, die der Seuche den Garaus machte, wenn man sie rasch genug einnahm. In der vorherigen Welt war Anticiprant ein zweitrangiges Antibiotikum gewesen; wie es die Rolle der Kavallerie bekommen hatte, die die eindringenden Spirochäten der Seuche zurückschlug, ließ sich nicht sagen. Eine Umfrage an einem beliebigen Kantinentisch in einem Wiederbesiedelungs-Camp hätte ein oder zwei Phönies erbracht, die behaupteten, jemanden zu kennen, der jemanden kannte, der so gerettet worden war. Bei genauerer Nachfrage konnte natürlich niemand mit Erkenntnissen aus erster Hand aufwarten. Mark Spitz glaubte nicht an die Wirksamkeit des Medikaments. Es war wohl eher so, dass die ursprünglichen Träger dieser Weltuntergangs-Folklore keine volle Dosis von der Seuche abgekommen hatten, nicht genug jedenfalls, um sich anzustecken. Aber es konnte nichts schaden, ein paar Pillen bei sich zu haben. Die Leute hatten schließlich auch Kruzifixe und heilige Bücher bei sich. Warum also keine leicht zu schluckende Kapsel Glauben in einer neuen, rasch wirksamen Formel.
    Kaitlyn gab Gary eine Morphiumspritze in den Arm und verband seine Wunde fertig. Mit einem fuchsienroten Handtuch aus der Toilette hinter dem Ladenraum wischte sie das Blut von ihm ab. Er stöhnte und starrte die Zigeunerin wütend an, als wollte er sie aufschneiden, nach seinem Daumen wühlen und ihn wieder annähen. »Zigeunerfluch«, sagte er und spuckte einen Rubin auf den staubigen Teppich. Der weiße Fäustling am Ende seines Handgelenks war mit roten Tüpfeln gesprenkelt, die zu roten Blumenblättern erblühten, ein ganzer Strauß wurden. Mark Spitz riss ein weiteres Verbandspäckchen auf.
    Noch brauchten sie keine drastischen Maßnahmen zu ergreifen. Noch war Zeit. Nach mehreren Generationen ging es inzwischen schneller, aber noch war Zeit.
    »Ich will noch mehr Tabletten«, sagte Gary.
    »Ich schaue mal nach, ob Bravo noch unterwegs ist«, sagte Kaitlyn. So wie Bravo gestrickt war, waren sie bestimmt schon längst zurück in Wonton, aber Mark Spitz wusste, dass Kaitlyn die Möglichkeit haben wollte, über Funk einen Lagebericht durchzugeben. Damit ein Ranghöherer sich einschaltete, und wenn es nur der unbedeutende Fabio war.
    Sie ließen sich im Hinterzimmer nieder. Die Wahrsagerin hatte sich während des Interregnums eine bescheidene Nische geschaffen, zumindest für ein paar Wochen. Die Wohnung trug die verräterischen Zeichen eines Lebens unter Belagerung: die schmierigen Kerzenwachshäufchen, die Zikkurats aus Bohnen- und Suppenkonserven. Die Couch und ihr Kokon aus Decken waren das Nest, wo sie ihre erfolglose Flucht geplant hatte. Mark Spitz half Gary dorthin, während der Verletzte ihre tote Gastgeberin bei jedem Schritt mit Schimpfwörtern

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