Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
Vom Netzwerk:
dass er seinen Rucksack vergessen hatte; er beschloss, nicht umzukehren. Der Donner der Artillerie nahm zu, abgespalten von dem Blitz, der vielleicht einen Augenblick lang seinen Weg durch die sich immer tiefere Düsternis hätte erhellen, seine Asche zu kurzlebigen Glühwürmchen beleben können. Der Donner hat seinen Bruder verloren, dachte er. Wann hatten sie das letzte Mal als Familie ein richtiges Essen genossen? Es richtig gemacht, ohne über die hohen Tiere in Wonton zu meckern, sich über Blasen zu beklagen, ein Essen, ohne dass jemand über die Zeit vor der Flut gebrütet oder in finstere Träumerei verfallen wäre. Für Omega war es selbstverständlich gewesen, das Familienessen. Es fiel ihm ein, als er auf den Broadway einbog: Kaitlyns Geburtstag. Sie waren die Treppen eines Firmen-Megalithen hinauf- und hinuntergelaufen, und Kaitlyn hatte nicht weniger als drei Anekdoten zum Besten gegeben, die detailliert einige der entscheidenden Geburtstagspartys ihrer Kindheit schilderten: den pädagogisch wertvollen Besuch auf der öko-freundlichen Ranch, wo Alpakas, deren rauhe Zungen kitzelten, graue Pellets von ihrer winzigen Handfläche knabberten; den Ausflug zum Labor des verrückten Wissenschaftlers, wo ihre Freundinnen aus der dritten Klasse Zuckerwattefäden spannen; die Überraschungsparty, in die offenbar die ganze Stadt eingeweiht war, so reibungslos klappte die Scharade vom »Besuch beim Zahnarzt«. Irgendwann blieb Gary nichts mehr übrig, als zu fragen, wann denn ihr großer Tag sei. »Heute«, sagte sie, während der Reißverschluss des Leichensacks in ihren Händen von alleine aufging und literweise klumpige Flüssigkeit und Innereien herausquollen.
    Die Mitglieder von Omega schnitten ihre Biskuits auf, um sie wie Brötchen zu verwenden, zündeten eine Kugel C-4 an, um ein Feuer zu machen, und grillten ein paar Spamburger, die sie zufrieden im Hinterzimmer eines italienischen Spitzenrestaurants in einer Nebenstraße der Laight Street verzehrten. »Schick«, sagte Gary und rülpste. Eine Prise Kreuzkümmel und Koriander machte einen Riesenunterschied, da waren sich alle einig. Omega trank etwas von dem Long - Island - Cabernet, der in Wonton die Runde gemacht hatte, nachdem einer der Generäle ein Such- und Rettungsteam in das Weingut in Bridgehampton geschickt hatte. Die Winzer hatten sich in Camp Eldorado niedergelassen und wurden Sponsoren, Patrioten.
    Erst nachdem sie das Zellophan um die Kokostörtchen aufgerissen und das obligatorische Lied gesungen hatten, erzählte Kaitlyn ihnen die Letzte-Nacht-Geschichte, mit der sie so lange hinterm Berg gehalten hatte. Bei ihr war es jedoch keine stumpfe Wiedergabe; sie erzählte es ihnen nicht aus dem Zwang heraus, der billigen Katharsis des großen Miteinanders zu frönen. Sie erzählte es ihnen als Lobrede auf die Katastrophe. Sie sagte: »Ich möchte euch von der Nacht erzählen, in der ich losgerannt bin, und dann trinken wir auf das Ende dieses Rennens.«
    Er rannte. Das Gebäude mit Onkel Lloyds Wohnung ragte vor ihm auf, als er um die Ecke bog, und einer der Scheinwerfer der Garnison war auf das blanke, blaue Metall seines Mittelteils gerichtet. Mark Spitz zögerte: Was versuchte es ihm zu sagen? Er hatte, wenn er von einer Reise zurückkam, die Nase an das dicke Glas von Flugzeugfenstern gedrückt, um das Gebäude zu sehen, sein Profil in den Wolkenkratzerreihen gesucht, wenn er auf einem der Zubringer in die Metropole im Stau stand, und wenn er es schließlich in der großen Masse erkannte, dann heiterte seine blaue Hülle, die sich über die Langeweiler erhob, ihn jedesmal auf. Jedesmal dachte er: Eines Tages werde ich in einem solchen Haus wohnen, ein Mann der Stadt sein. Jetzt war der schimmernde blaue Mond, den der Scheinwerfer aus dem Nachthimmel herausstanzte, fremdartig und beunruhigend. Es war nicht dasselbe Gebäude. Es war ersetzt worden. Er rannte durch die Asche, die nun wirklich – in seiner Einbildung oder überall – in langsamen, dicken Flocken herabregnete, die sich mit unerbittlicher Sicherheit auf den Bürgersteig legten. Er war den Verbrennungsöfen so nahe, dass es sich durchaus um echte Asche handeln konnte. Der Lieutenant war in diesem Zeug, von den Coakleys zerkleinert.
    Am Abend ihres Geburtstags, in dem italienischen Esslokal, erklärte Kaitlyn, sie habe sich eine Zugfahrkarte gekauft, obwohl diese teurer gewesen sei als der Flug, weil es so vieles gab, was sie vom Land noch nie gesehen hatte. Die erquicklichen

Weitere Kostenlose Bücher