Zone One: Roman (German Edition)
Eigenschaften der landschaftlich schönen Strecke. Während die Welt vor den Fenstern erbaulich war, galt das nicht für die im Waggon. Nach drei Stunden in ihrem nicht verstellbaren Sitz schossen ihr unregelmäßig Schmerzen durch die Waden, und das WLAN klinkte sich so eigenwillig ein und aus, dass sie auf halber Strecke der Anwaltsserie, die sie hatte streamen wollen, aufgab. Das endgültige übelkeiterregende Ärgernis ergab sich, als eine oder mehrere Personen drei Reihen hinter ihr so etwas wie einen kulinarischen Salut an den Käseauflauf auslösten, der den Waggon mit einem nur widerwillig verfliegenden, fast körperlich greifbaren Gestank erfüllte, quasi einen zusätzlichen Fahrgast bildete. Aber ihre Freundinnen erwarteten sie schon auf dem Bahnsteig, als sie zu ihrem Wiedersehenstreffen kam, und winkten hinter den Metallschranken hervor, wo die stahläugigen deutschen Schäferhunde der Sicherheitsteams an ihren Ketten zerrten. Kaitlyn vergaß die Qualen im Zug, bis ihre Freundinnen sie drei Tage später wieder zum Bahnhof brachten.
Der Zug, der sie nach Hause befördern sollte, blieb außerhalb von Crawfordsville stehen. Der Name trällerte noch so viel später singsanghaft in ihrem Gehirn, Schauplatz in einem Country-and-Western-Song, wo die Sängerin unerwartet ihrer großen Liebe begegnet oder sie verliert. Der Sunset Dayliner rührte sich nicht mehr, die Lichter flackerten, die Belüftung ging puffend an und aus – ein Moment der Turbulenz, als hätten sie eine Schlechtwetterzone durchfahren. Jenseits dieser Störung eilte einer der Schaffner zwischen den Sitzen hindurch in Richtung vorderer Zugteil, ignorierte Fragen, vermied Blickkontakt und murmelte Unverständliches in seinen knisternden Handapparat. Ein Paar besorgter Passagiere drängte sich konsterniert vor der behindertengerechten Toilette aneinander, und Kaitlyn hörte die altehrwürdige Drohung des ohnmächtigen Kunden: Der Sache werde ich auf den Grund gehen. Als zahlende Kunden hatten sie gottgegebene Rechte, in ihren Smartphones warteten die Nummern von Firmen-Hotlines, lockten aus dem Internet, der Kundenschutzapparat stellte nützliche E-Mail-Adressen bereit, um ihre Gesuche zu erfassen und Abhilfe zu schaffen.
Die Frau auf dem Fensterplatz, ein vogelartiges Geschöpf, das den Schnabel seit dem Einsteigen kein einziges Mal vom Bildschirm seines Tablets gehoben hatte, sah Kaitlyn zum ersten Mal an, während sich über die Sprechanlage die von Rauschen untermalte Stimme meldete: Wir werden vorübergehend hier aufgehalten. Die Frau zog die Ohrhörer aus den Eingängen seitlich an ihrem Schädel. »Wo sind wir überhaupt?«, fragte sie. Später schoss ein Angehöriger der Nationalgarde sie mit einem Maschinengewehr sechsmal in den Rücken, als sie versuchte, in den Wald zu entkommen.
Der erste, der nach der Durchsage aufstand, war ein Mann Mitte fünfzig, der einen blauen Jeansanzug trug und in dessen Bart rotgrüne Perlen geflochten waren. Er versuchte, in den nächsten Waggon zu gelangen; die Tür rührte sich nicht. Sie waren eingesperrt. Eine Stunde verging. Die Striche der Empfangsanzeige von Kaitlyns Handy fielen einer nach dem anderen, und das WLAN verabschiedete sich endgültig. Bevor die anderen Fahrgäste den Kontakt zu ihren jeweiligen Netzwerken verloren (in einem einzigen unheimlichen Moment, eine Kaskade der Enttäuschung), lieferten die Nachrichtenblogs, was der Schaffner verschwieg: Der Zug stand unter Quarantäne. Ein Fahrgast im Speisewagen habe sich »auffällig verhalten« und die Aufmerksamkeit des Zugpersonals auf sich gezogen. Nach einem Handgemenge habe sich der Terrorist in einer Toilette verbarrikadiert und drohe damit, einen biologischen Wirkstoff freizusetzen. »Die müssen uns rauslassen«, jammerte jemand. Eine Frau schrie auf, und alle im Waggon sahen durch die Fenster die Militärlaster und Jeeps, aus denen die Soldaten in ihren weißen Schutzanzügen auf das geschotterte Gleisbett sprangen. Ihre Gesichter konnte Kaitlyn nicht sehen.
Der terroristische Anschlag blieb in den ersten paar Stunden die offizielle Version, plausibel und selbsterklärend. Später, als Kaitlyn auf der Flucht war, erfuhr sie, was der Rest des Landes in den Nachrichten gehört hatte, ehe die Medien zu einer stumpfen Aufzählung von Rettungsstationen und einer flüchtigen Liste widersprüchlicher Behandlungsverfahren herunterkamen. Ehe die Medien, hinfällig, dumpf, ihre Seele aushauchten. Der Patient null des Zugs war auf seinem
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