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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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Platz vertiert – war aus den Codes der Menschheit heraus- und den düsteren Direktiven der Seuche anheimgefallen – und hatte drei Leute gebissen, bevor er gebändigt werden konnte; der Hilferuf des Schaffners hatte eine lokale militärische Reaktion ausgelöst. Die Behörden achteten auf den Notrufkanälen auf bestimmte Schlüsselwörter, denn das Ende der Welt hatte gerade erst begonnen, und auf Notrufe hin wurde noch das Militär mobilisiert. Jedenfalls auf manche Notrufe hin.
    Niemand kam aus dem Zug heraus. An jenem Abend der Letzten Nacht unternahmen einige Fahrgäste in Kaitlyns Waggon einen Ausbruchsversuch – schlugen das Glas des Notausstiegs heraus und rannten auf eine vermeintliche Lücke im Kordon zu. Das war Kaitlyns erste Begegnung mit jenem Interregnum-Klischee, bei dem das Alphamännchen oder -weibchen um Unterstützung für einen verrückten Plan wirbt und den zum Scheitern verurteilten Ausfall organisiert: in wildem Durcheinander aus dem umstellten viktorianischen Haus; Hals über Kopf zur Falttür des feststeckenden Busses hinaus, in einem Wirbelwind von Ad-hoc-Knüppeln, Suppenkellen und Schürhaken. Aus dem unter Quarantäne gestellten Eisenbahnwaggon, der von seiner festen Strecke gepflückt und achtundvierzig Stunden weiter in die Zukunft, in den Zusammenbruch befördert worden war. In jener letzten Nacht vor der Letzten Nacht erledigten die Maschinengewehre diese Unerschrockenen; danach übernahmen das Zähne.
    Als die Soldaten sich am folgenden Abend plötzlich davonmachten – die gepanzerten Fahrzeuge rasten zu unerlaubten Privateinsätzen auf der Suche nach Nahestehenden oder zu vergeblichen Operationen, die verhindern sollten, dass alles auseinanderflog –, trat Kaitlyn die Flucht an. Sie und die anderen Fahrgäste befreiten sich aus dem reglosen Massentransportmittel, um die neuen Lektionen zu meistern oder schon in ihren verstreuten Anfängerkursen zugrunde zu gehen. Irgendwann führte ihre Flucht sie in die Zone One, zu Gary und Mark Spitz und der Geburtstagsfeier im Veranstaltungsraum eines italienischen Restaurants, wo, mit krass vorspringendem, aufgeblähtem Kinn und Knollennase, auf einer dunklen Holzvertäfelung die Karikaturen der dahingegangenen Stammgäste, berühmter wie nicht berühmter, prangten. Kaitlyn erzählte ihnen ihre Letzte-Nacht-Geschichte nicht, um in eine ritualisierte Form von Trauer einzutreten, sondern sie wollte sagen: Diese Geschichte handelt davon, wie es einmal war. Als wir noch nicht wussten, was sich da abspielte, und wehrlos waren. Kaitlyn brachte einen Toast auf Zone One und die neue Welt aus, die sie aus dem Stein herausmeißelten, Gebäude um Gebäude, Zimmer um Zimmer, Skel um Skel. Die Absicht der Karikatur, dachte Mark Spitz, während er ihrer Geschichte lauschte, besteht darin, das Monströse einzufangen, das wir jeden Tag übersehen. Vielleicht, sagte sie, können wir die Monster wieder unsichtbar machen.
    Mark Spitz schwelgte in dieser Erinnerung an ihre letzte Feier, während er in den Dunstkreis von Wonton eintrat. Es war eine schöne Nacht gewesen damals, als sie einander vorzumachen versuchten, dass die Welt nicht unterging. Während er dem Gewehrfeuer von uptown lauschte, wusste er, was passierte. Die Barriere war kurz davor zu versagen. Sie würde zusammenbrechen, wie sie es immer tat.
    Es fing folgendermaßen an: In der White Street winkte er Lester heran, einen der Typen von Einheit Alpha und, seit ihrer ersten Woche in der Zone, selbsternannten Partyveranstalter für den Ruhe- und Erholungssonntag. Lester trug einen Karton Long-Island-Rotwein, und an den Fingern seiner linken Hand baumelte eine riesige Plastiktüte voller Popcorn. Er deutete mit dem Kinn in Richtung Mauer und verdrehte angesichts des Trommelfeuers die Augen, als ärgerte ihn bei seinem jährlichen Grillfest das Laubgebläse des Nachbarn. »Die Skels kommen schon den ganzen Tag nonstop zum Essen.« Ob Mark Spitz das mit dem Lieutenant gehört habe? Ja, hatte er. Lester schnorrte gerade Nachschub für die nächste Totenfeier und war unterwegs zu dem Jiaozi-Laden.
    Mark Spitz sagte ihm, er werde dann auch dorthin kommen, erzählte ihm aber nichts davon, dass Gary gebissen worden war, gemäß den Wünschen seines Freundes. Außerdem konnte Gary Lester nicht leiden.
    Es war immer wieder ein eigenartiger Anblick, wenn man sich nachts Wonton näherte. Das unnatürliche Gleißen der Scheinwerfer bleichte die Gebäude knochenweiß, während sich in den Schatten die

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