Zone One: Roman (German Edition)
ihn mit dem Grauen bekanntgemacht und ihn die vorangegangenen Nächte stark beschäftigt. Schlechte Träume. Die Hyänen und ihr Geheul. Er musste zu seinen Eltern in das große Bett schlüpfen, wie er es als ganz kleiner Junge getan hatte, bevor er gemäß den neuesten Lehren der Kindererziehung in sein eigenes, normal großes Bett verbannt worden war. Es war verboten, aber er beschloss, zu seinen Eltern zu gehen. Er tappte den Flur entlang, vorbei am grünen Auge des Rauchmelders, jenem immer wachsamen Beschützer vor unsichtbaren Übeln, vorbei am Badezimmer und am Wäscheschrank. Er öffnete die Tür zum Elternschlafzimmer, und da war sie und knabberte an seinem Vater. Sein Vater hörte mit seinem beunruhigenden Ächzen auf und brüllte, er solle verschwinden. Der Vorfall kam nie wieder zur Sprache und war der erste, der sich in jenem Winkel in der Dachkammer seines Verstandes einnistete, den er für die großen Demütigungen reservierte. Der erste, aber nicht der letzte.
Natürlich flohen seine Gedanken zu jener Nacht, als er bei seiner Rückkehr aus Atlantic City die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern aufmachte und Zeuge der grausigen Verrichtungen seiner Mutter an seinem Vater wurde. Sie war über ihn gebeugt und nagte mit ekstatischem Eifer an einem Wulst seines Darms, dem das Dämmerlicht des Fernsehers etwas Phallisches verlieh. Er dachte sofort an damals, als er sechs gewesen war, nicht nur wegen des ähnlichen Bildes, das sich ihm bot, sondern weil der menschliche Verstand unter Druck dazu neigt, als Schranke gegen das Grauen in friedlicheren Zeiten, etwa in einem Kindheitserlebnis, Zuflucht zu suchen.
Das war der Beginn seiner Geschichte der Letzten Nacht. Jeder hatte eine.
Mark Spitz und Gary kehrten in die Anwaltskanzlei zurück und schleiften die anderen beiden Leichen nach unten, während Kaitlyn ihnen pfeifend folgte. Sie schlug vor, Mittagspause zu machen, und sie hockten sich in der Eingangshalle unter den Glaskasten mit dem Verzeichnis der Mieter des Gebäudes, aufgeführt in leicht neu zu kombinierenden weißen Buchstaben, die in schwarzem Filz steckten. Wie die meisten Listen von Menschen war sie mittlerweile ein Verzeichnis von Toten, das Negativ einer Nachrufseite.
»Sind die Sponsor?«, fragte Gary. »Wir haben Hunger.« Er hielt einen Schokoriegel hoch, den er aus dem Durcheinander von Süßigkeiten, Minztabletten und Handdesinfizierern geborgen hatte. Der Zeitungskiosk in der Eingangshalle war aufgebrochen und geplündert worden, wahrscheinlich von den Marines oder aber von einem Überlebenden aus der Zeit nach der Evakuierung, dem die Kekse ausgegangen waren und der einen Streifzug gewagt hatte.
»Noch nicht«, sagte Kaitlyn.
»Aber vielleicht kommen sie ja nächste Woche an Bord. Könnte doch passieren. In dem Fall wär’s okay.«
Kaitlyn schüttelte den Kopf.
»Die Marines haben sich doch auch genommen, was sie wollten, als sie hier waren. Was glaubst du denn, wo die die ganzen NFL -Trikots herhatten?«
»Das war, bevor die Vorschriften erlassen wurden. Du hast Schokoladenkekse in deinem Verpflegungspaket.«
Gary warf den Schokoriegel auf den Boden und verkniff sich seinen üblichen Witz. Normalerweise wies er, wenn jemand Verpflegungspakete, ihre Militärrationen, erwähnte, darauf hin, dass Überlebende Verpflegungspakete für die Skels waren, irre komisch, und untermalte das Ganze mit seinem heiseren Gekicher. Vielleicht war Gary erschöpft; es ging aufs Wochenende. »Wird doch bloß von den Bewohnern aufgegessen«, sagte er. »Blöde Phönies.«
»Vielleicht quartieren sie dich ja hier ein«, sagte Mark Spitz. Er glaubte es nicht.
Buffalo hatte noch nicht bekanntgegeben, mit wem Manhattan wiederbesiedelt werden würde, sobald die Sweeper fertig waren, aber Gary bezweifelte schon lange, dass er dazugehören würde. »Glaubst du ernsthaft, wir landen hier? Wir sind nichts Besonderes. Die werden die Reichen hier unterbringen. Politiker und Profisportler. Diese Köche aus den Kochshows.«
»Das wird ausgelost«, sagte Kaitlyn seufzend. Sie öffnete eine Fleischtube und drückte sich den Inhalt in den Mund.
»Ausgelost, von wegen«, sagte Gary. »Die werden uns auf Staten Island unterbringen.«
»Ich dachte, du magst Inseln«, sagte Mark Spitz. Gary glaubte fest an die Theorie der Insel als optimalen Ort, die Seuche zu überleben.
»Wir mögen Inseln. Natürliche Verteidigungsanlagen. Du weißt, dass wir Inseln mögen. Aber auf Staten Island würden wir nicht mal wohnen
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