Zone One: Roman (German Edition)
sie aufgelesen hat. Man lässt sie einfach da, finde ich. Wo auch immer sie sein wollen. Sollen sie ruhig in den Kabuffs sitzen, Tag und Nacht mit dem Bus fahren und im Betriebshof übernachten. Am Strand abhängen und ein bisschen Sonne abkriegen. Sie bekommen überhaupt nicht mit, was läuft – wahrscheinlich glauben sie, es läuft alles ganz normal. Gehen ihren Tag an, wie sie’s immer getan haben.«
»Das ist doch krank«, sagte Kaitlyn und verschränkte die Arme. »Sie sind krank.« Kaitlyn schilderte ihre Eltern ausnahmslos in der Vergangenheitsform und verweigerte sich dem Szenario, in dem sie langsam durch ihre Heimatstadt gingen, wirr im Kopf und hungrig. Mark Spitz vermutete, dass sie sich Mom und Dad am Gasgrill im Garten vorstellte, auf der mit Schiefer belegten Terrasse erstarrt und verdammt.
Von der Straße war hektisches Gehupe zu hören: der Fahrer eines Jeeps, der Sonntagabend-Betrunkene aus dem Weg scheuchte. Der Lieutenant lehnte sich mit seiner gewohnten Trägheit auf der Vinylbank zurück. »Nein, ihr habt recht. Man darf sie nicht vermenschlichen. Das Ganze bricht zusammen, wenn man nicht hundertprozentig sicher ist, dass sie nicht man selbst sind. Ich ähnle diesem Tier nicht, sagt man sich. während man im Hinterzimmer eines Minimarkts hockt, in einen Eimer pinkelt und sich zum Abendessen ein räudiges Eichhörnchen kocht.« Der Lieutenant nahm einen geräuschvoll schlürfenden Schluck. Mark Spitz konnte nicht sagen, ob der Mann Kaitlyn oder seine eigenen ausgelatschten Illusionen schlechtmachte. »Man ist immer noch der Mensch, der man vor der Seuche war, obwohl man über den Parkplatz irgendeines beschissenen Einkaufszentrums um sein Leben rennt, weil einen eine Horde Monster jagt. Ich habe mich nicht kleinkriegen lassen. ›He, vielleicht hat der tote Typ da was in seinem Einkaufswagen, was ich essen kann.‹«
Kaitlyn bewegte den Mund, beherrschte sich dann aber. Sie hatte schon mit tranigen Lehrern zu tun gehabt und die Oberhand gewonnen. »Wenn die Seuche durch die Luft übertragen würde«, sagte sie, »würden wir sie nicht in unsere Nähe lassen.«
»Das hier ist ein abstraktes Gedankenexperiment.«
Mark Spitz sagte: »Nach einer Weile würden wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.«
Der Lieutenant brachte eine unaufrichtige Grimasse zustande: »Deswegen mag ich Irrläufer. Die wissen, was sie tun. Elan und Zielstrebigkeit. Was haben wir? Angst und Gefahr. Die Erinnerungen an alle, die man verloren hat. Die normalen Skels, die sind komplett im Eimer. Aber der Irrläufer, der Irrläufer ist ganz anders dran. Er lebt immer in seinem vollkommenen Augenblick. Er hat ihn gefunden – den Ort, wo er hingehört.« Er hielt inne. »Mark Spitz, wie ich sehe, bist du zu Whiskey übergegangen. Schmeckt gut, stimmt’s?«
Sie tranken die Flasche leer. Die Woche darauf trudelten die drei nach und nach dort ein, und es wurde zur Sonntagabend-Gewohnheit.
Monate später im Restaurant, nach weiteren Kontakten mit den Kreaturen, Planquadrat nach langweiligem Planquadrat, fragte er sich, ob sie sich diese Orte oder ob die Orte sie aussuchten. Unmöglich zu sagen, was für Vorstellungen die verhedderte Verdrahtung in ihrem Gehirn hervorbrachte, die durch ihre befallenen Synapsen jagenden üblen Ströme. Er musste an jenen ersten Irrläufer denken, der mit seinem blöden Drachen auf der zum Verschwinden verurteilten Wiese stand. Das naheliegende Narrativ lautete, dass er als Kind dort gespielt, zum Himmel aufgeschaut hatte, ohne auf das zu achten, was ihn zum Stolpern brachte. Vielleicht ging es auch nicht darum, was sich an einem bestimmten Ort – Lieblingszimmer, Strandabschnitt oder grüne, krautige Wiese – ereignet hatte, sondern um die dauerhaft mit diesem Ort verbundene Assoziation. Dort habe ich beschlossen, ihr einen Heiratsantrag zu machen, in diesem Fahrstuhl, und jetzt existiere ich wieder in diesem Augenblick von Möglichkeit. Er hatte nur eine Minute in diesem Raum zugebracht, aber das hatte sein Leben unwiderruflich verändert. Also sucht er ihn auf. Das ist das Hotelzimmer, in dem unsere Tochter gezeugt wurde, und jetzt hier zu sein ist so, als wäre sie wieder bei mir. Nicht das Hotelzimmer selbst mit seinem fleckigen Teppich, der fehlenden Room-Service-Karte und dem geklauten Korkenzieher war wichtig, sondern das, was sich neun Monate später daraus ergeben hatte. Der Irrläufer stand im Bann von Zimmer 1410, nicht der langen Nächte auf der Säuglingsstation, wo sie sich
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