Zone One: Roman (German Edition)
brauchte Inspiration für seine Aufschneidereien und aufreizenden Sprüche. Die ramponierten Musikboxen an den Tischen funktionierten nie, aber er lieh sich trotzdem jedes Mal zwei Quarter von seinem Dad. Das Klirren des Metalls war Musik genug. Das Lokal war die Bühne für geschätztes Theater. Bei jedem Besuch studierten seine Eltern wie zum ersten Mal die Speisekarte, und Mark Spitz erkundigte sich, ob es Buntstifte gab, obwohl er wusste, dass sie eine ganze Lazarettstation davon hatten, eine ganze Schublade voller bakterienverseuchter, halb zerkauter Stummel in beschädigten Pappschachteln. Seine Mutter fragte sich jedes Mal laut, ob es irgendwelche Tagesgerichte gab, wo doch jeder in das kulinarische Angebot des Abends gepferchte Hauptgang vor einer solchen Bezeichnung zurückgeschreckt wäre. Während er auf sein Essen wartete, zog er ein grünes Fragment durch das Kidz-Circle-Tischset, verband die Punkte miteinander, um die Zoo-Menagerie Tier um Tier zu entatomisieren, die Effekte des außerirdischen Strahls zunichtezumachen, der alles entzweigerissen hatte. Er plünderte die Kinderspeisekarte, arbeitete sich durch die zarten, sternförmigen, neu kombinierten Fischteile und sirupsüßen Limonadenmischungen, schlang alles gierig hinunter. Das war gute amerikanische Kost.
Heute schnappte sich Mark Spitz eine Speisekarte von einer Anrichte, und Schmerzen von dem Angriff am Vortag durchfuhren seinen Arm. Er hatte zugelassen, dass sie ein Stück von ihm kriegten. Der Mutterkonzern hatte sich schließlich in die Produktpalette eingemischt und der Liste von Cholesterinbomben, die sich, von dicken, suspekten Saucen an Ort und Stelle festgeklebt, auf den übergroßen Tellern häuften, einen Mittelmeersalat und Hühnchen mit Zitronengras hinzugefügt. Neben den angebotenen Gerichten taten Kalorienangaben und staatliche Richtlinien ihr Missfallen kund und spotteten über den Taillenumfang der Gäste. Sein Vater hatte oft gescherzt, er bete, wenn er seinem Schöpfer gegenübertreten müsse, um einen schnellen Herzinfarkt im Schlaf nach einem ihrer riesigen, auf offener Flamme gegrillten Cheeseburger. Seine Mutter bedachte diese Äußerungen mit einem tadelnden Zungenschnalzen, da sie diesen sogenannten Humor missbilligte. Es war dann schließlich kein Herzinfarkt, was ihn erwischte.
Er zog beim Umherschweifen die Hand an der Messingstange entlang. Er war schon hier gewesen und doch nicht hier gewesen. Das war die Magie des Franchiseunternehmens. Von kleinen Unterschieden im Grundriss abgesehen, hatte die gebotene Anordnung von Tischen und Stühlen das Ausmaß der Ereignisse in Manhattan überlebt: Die zinnoberroten Lampenschirme umschlossen mit altmodischer Eleganz die Glühbirnen an der Decke, als Laternen getarnte Leuchter waren in vorgeschriebenen Abständen an der Wand befestigt. Er war in anderen Leben hier gewesen, die sich nun in dieses drängten. Er drückte die Stirn gegen das Glas und schaute hinab auf sich selbst: einen fünf Jahre alten Klumpen Jungen-Materie; den schlampigen Tolpatsch, der er mit sechzehn gewesen war; irgendein unbestimmtes Geschöpf, das zum Dreißigsten seiner Eltern kam und Luftballons aufblies, wenn es meinte, dass niemand hinsah. Ihm wurde schwindelig in seinem Wirrwarr. Er kam sich vor wie ein kleines Kind, das aufs Klo gegangen ist und vergessen hat, wo seine Eltern sitzen. Eine andere Familie war an die Stelle der seinen getreten, als er an den Tisch zurückkehrte, keine Verwandten von ihm, sie riefen aus dem Ödland, taxierten ihn, argwöhnisch und fremd. Ein tiefes Grauen versetzte seinen Schädel in Aufruhr, und er drehte den Kopf, ließ den Lampenstrahl durch Dunkelheit und Staub streichen. Er konnte noch so viel suchen, diesmal würde er sie nicht finden.
Er war ein Geist. Ein Irrläufer.
Die Monsterfilm-Spekulationen seiner Kindheit hatten ihn während so mancher düsteren Mitternacht gezwungen, sich zu fragen, was für einen Skel er wohl abgeben würde, falls die Seuche sein Blut in Gift verwandelte. Der übliche Skel besaß natürlich keinerlei Spielraum für Improvisation. Er würde genau dessen widerwärtigen Merkmalen entsprechen. Aber was für einen Irrläufer würde er abgeben? Was liebte er, welcher Ort war ihm wichtig gewesen? Arbeit oder Zuhause, Zielpunkt emotional besetzter Energie. Ja, er liebte sein Zuhause. Vielleicht würde er dort enden, sich auf seinem abgewetzten Lieblingsplatz auf der rechten Seite des Sofas niederlassen (rechts, wenn man in Richtung TV
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