Zopfi, Emil
Marilyn duldete keinen Schnurrbart. Ich will keinen Türken im Haus, sagte sie. Er griff sich ans Kinn, fühlte die Stoppeln und beschloss, einen Bart wachsen zu lassen. Er musste sich endlich durchsetzen in der bigotten Gesellschaft seiner Familie in jenem andern Leben, das ihm schon so fern erschien wie ein alter Schwarzweissfilm.
In der Küche roch es nach Angebranntem, Essigmücken tanzten über einer Früchteschale mit schrumpligen Äpfeln, Tomaten und schwarzen Bananen. Der Zettel lag daneben, darauf gekritzelt: «Robert! Nicht vergessen! Volkshaus, Blauer Saal, 14 Uhr!»
Er steckte ihn ein. Er musste weg. Fort aus dieser Wohnung, die sein Zeitgefühl durcheinanderbrachte. Er fand seine Jacke, das Futter war noch feucht. Die Holzstufen im Treppenhaus waren ausgetreten, dem Geländer fehlten einige der gedrechselten Stützen. Einen Stock tiefer blieb er stehen. Hatte er etwas vergessen?
Er kam sich nackt vor ohne Mappe oder Reisegepäck. Mit der Hand tastete er nach dem Smartphone, der Brieftasche, den Flugtickets und den Pässen. Alles war da. Auf Grund einer seltsamen Gewohnheit hatte er wie immer, wenn er ins Ausland reiste, beide Pässe eingesteckt, den amerikanischen und das alte rote Büchlein, das ihn als Schweizer Bürger auswies.
Nach einem Vordach führte eine kurze Steintreppe auf einen Kiesweg und durch einen verwilderten Garten und ein verrostetes Tor, das offen stand, auf die Strasse. Er sah zurück. Die Fassade der alten Villa war mit Graffiti besprayt. Ein grüner Drache mit Flügeln spie Feuer, ein Raumschiff auf himmelblauem Grund raste auf einen Regenbogen zu. Ein Transparent auf halber Höhe verkündete: Dieses Haus ist besetzt!
Der Schirm fiel ihm ein. Er stand aufgespannt neben dem Sofa, auf dem er die Nacht verbracht hatte, doch wollte er nicht mehr umkehren. Der Regen hatte nachgelassen. Längst hätte er sich nach seinem Koffer erkundigen müssen. In der Innentasche seiner Jacke fand er das Formular mit der Nummer. Er rief an, man verband ihn weiter. Sein Koffer war noch nicht aufgetaucht.
«Tut uns leid, wir werden der Sache nachgehen. Offenbar ist er in Frankfurt fehlgeleitet worden.» Es war eine andere Stimme als jene der Schwarzen mit den Zöpfchen.
Er schritt die Strasse hinab und weiter durch Quartiere, die er nicht kannte, bis er ein Café fand, in dem er frühstücken konnte.
Pippo drückte sich den Hut mit dem Schlapprand auf den Kopf, stieg in die Stiefel, stapfte ums Gartenhaus und holte aus dem Schuppen eine Schaufel. Er brauchte frische Luft und Bewegung. Handarbeit, Schweiss, Schwielen. Der Regen hatte nachgelassen, vom Zwetschgenbaum tropfte es. Die nassen Zweige, an denen ein paar gelbe Blätter hingen, glänzten silbrig im Licht, das durch tief liegende Wolken drang. Die Stadt lag unter einem Dunstschleier, von den Bürogebäuden in der Binz stieg Dampf auf. Lehmgruben gab es früher da unten, Ziegeleien, Industrien. Zu Zeiten, als man noch arbeitete, Produkte des täglichen Lebens herstellte. Ziegelsteine, aus denen Häuser gebaut wurden. Heute hockten die Angestellten in Krawatte und weissem Hemd vor Bildschirmen und jagten fiktives Kapital und abstrakte Informationen rund um die Welt. Aus der stolzen Klasse der Werktätigen war ein Heer von Entfremdeten geworden. Marx hatte das vorausgesehen, vor über hundert Jahren. Geld war das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit.
Pippo zerrte die Eisenstange, die das Gitter des Kompostsammlers zusammenhielt, am Griff aus dem Boden, bog es auseinander. Der schwarze Plastiksack riss, er schlitzte ihn mit ein paar Schaufelschlägen ganz auf. Das Sammelgut quoll heraus, unten schon schwarz, oben noch voller Speisereste, Laub und Rasenschnitt. Eine Schicht durchsetzt von Kompostwürmern, durch andere frassen sich dicke weisse Maden. Mit der Schaufel stach er zu, wendete die Brocken, zerschlug sie, schichtete sie neben dem Sammler zu einem Haufen. Manchmal zerteilte er einen fetten Regenwurm, beide Enden krümmten sich im Dreck, lebten weiter. Er las Äste, Steine und Knochen heraus, warf sie in einen Kübel. Im Frühling würde der Haufen zu schwarzer Erde verrottet sein. Sauerstoff war wichtig, luftig musste er werden, mit einer Folie abgedeckt, sonst verfaulte der Kompost, verlor seine Kraft. Wie die Gesellschaft, dachte er jedesmal, wenn er am Kompost arbeitete. Umgraben, immer wieder, Luft hinein, das untere nach oben kehren. Die faulen Äpfel und Kürbisschalen von oben kommen zuunterst, Frass für Würmer und
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