Zopfi, Emil
gegenüberliegenden Haus. Er beneidete ihn, ein ehrlicher Beruf, mitten im Leben ohne hohen Anspruch. Zufrieden mit einem Bier und einem Fussballmatch am Fernsehen und einer Frau im Bett. Und er? Vorbei. Vorbei das Leben. Er war am Ende.
Die Blumen und die Kerzen waren verschwunden, auch das Bild von Martin Kunz. Ein paar Wachsflecken am Boden waren zurückgeblieben. Robert ging um die Steinsäule herum, las die Inschrift. «863 Kilometer nach Berlin. Die Stadt Zürich setzte diesen Stein als Zeichen ihrer Verbundenheit mit der Stadt Berlin. Am 11. April 1959.»
Das Datum sagte ihm nichts. Bau der Berliner Mauer vielleicht? In der Partei nannte man sie damals den «Antifaschistischen Schutzwall». Er erinnerte sich an das Referat eines Genossen aus der ddr, der die historische Notwendigkeit dieses «legitimen Grenzregimes», wie er es nannte, wortreich rechtfertigte. Es sei der Westen, der den real existierenden Sozialismus, das Paradies der Arbeiterklasse und der Bauern, ausbluten und zerstören wolle. Wie hatte man das glauben können? Robert wunderte sich, wie deutlich Bilder aus längst vergessenen Zeiten auftauchten. Selbst das Jackett jenes Funktionärs, graues Fischgratmuster, seine Brille, seine porige bleiche Gesichtshaut sah er vor sich, während er die Limmat entlangging. Schritt für Schritt hielt er sich am Geländer fest. Die Fassaden der Häuser an der Schipfe schwankten, als ob sie im Fluss schwimmen würden. Er hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, obwohl er noch nichts getrunken hatte.
Sein Koffer war noch immer nicht eingetroffen. Er hatte nochmals am Flughafen angerufen, eine männliche Stimme hatte ihn in schlechtem Englisch vertröstet. Ich sollte Marilyn informieren, ging ihm durch den Kopf. Sie könnte veranlassen, dass der Vortrag vom Netzwerk der University of Iowa an die Zürcher Hochschule übermittelt würde. Die grosse Uhr am Turm der Peterskirche zeigte kurz nach elf. In diesen Minuten würde das Symposium an der Hochschule eröffnet. Begrüssungen, Vorstellen der Referenten, Einführung durch den Leiter des Max-Frisch-Archivs, dann gemeinsames Mittagessen. Unrasiert und nass konnte er sich dort nicht zeigen. Die Veranstaltung interessierte ihn auch nicht mehr.
Robert stieg über eine kurze Treppe zur Plattform hinab, wo die Limmatschiffe anlegten. Was war mit Martin Kunz geschehen?, fragte er sich. Der junge Anwalt hatte sie nach einer dummen und dilettantischen Aktion verteidigt, vierzig Jahre war das her. Er hatte Martin nie mehr gesehen nach dem Prozess. Er sah auf den Fluss, der bis zum Rand der Plattform angestiegen war. Martin war in diesem grünen Wasser ertrunken, an dessen Grund sich zwischen schlammbedeckten Steinen gefiederte Schlingpflanzen träg bewegten. Hier war er in die Limmat gestürzt, flussabwärts bei der Bahnhofbrücke hängen geblieben. Ein Grüner im grünen Schlick, von Schlingpflanzen gefesselt. Welche Ironie. Ein Schwan trieb an den blauweissen Pfosten vorbei. Vier Stufen führten von der Strasse herab. Es war denkbar, dass einer im Suff da herunterfahren und ins Wasser stürzen konnte. Robert sah Flecken am Boden, Öl oder Blut. Es war möglich, dass einer da verunglückte, aber nicht wahrscheinlich. Er bückte sich, fuhr mit einem Finger über einen der Flecken, die Fingerkuppe war schwarz. Nach Öl roch sie nicht.
«Suchst du was?»
Robert erschrak, die Stimme klang wie Gebell. Am Zaun über ihm lehnte ein breiter Typ in schwarzem Lederzeug, Sonnenbrille im Gesicht, eine Wollkappe auf dem Kopf. Hinter ihm zwei andere in ähnlicher Kluft. Dicke Bärte, lange Haare.
Robert spannte sich, als ob er im Spielfeld stehen würde. Er war ein starker Handballer gewesen, durchtrainiert, doch der Ledermann war ein Schwergewicht. «Ob du was suchst, hab ich gefragt.» Er schob seine Sonnenbrille hoch.
«I’m sorry, Sir.» Robert trat zurück ans Gitter des Landungsstegs.
«Nix verstehen du Deutsch?»
Robert zeigte beide Handflächen. Drei Schwergewichte gegen einen Veteranen, keine Chance.
«Das ist doch nur ein blöder Touri», bellte einer der Männer. Der Vorderste klappte seine Sonnenbrille vors Gesicht, drehte sich weg. Motorräder starteten. Robert sah den Bikern nach, bis sie beim Helmhaus verschwanden.
Er spürte, dass er zitterte. Vor Kälte oder vor Angst. Der Regen hatte wieder eingesetzt. Er brauchte einen Schirm oder noch besser einen Mantel. Er überquerte die Strasse zum Niederdorf, kam durch die Weingasse in den Rosenhof. Zwei
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