Zopfi, Emil
Schweiz, Frisch und Amerika.
Roberts Rücken schmerzte, er spürte ein Stechen in den Schläfen, vom Wein oder vom Jetlag. Der Quilt roch nach Zigarettenrauch, er selber nach dem Schweiss der Nacht, ungewaschen und unrasiert, wie er war. Er kannte das Leben in Wohngemeinschaften, die Nächte auf Sofas oder Matratzen am Boden. Die Nächte mit Freundinnen oder Zufallsbekannten, die am Morgen schon verschwunden und tags darauf vergessen waren. Vielleicht, so dachte er, habe ich in jener Zeit einer von ihnen ein Kind gemacht, und irgendwo auf der Welt läuft noch ein Sohn oder eine Tochter von mir herum. Aids hatte es noch nicht gegeben, aber schon die Pille. Nahm sie eine Frau nicht, so war sie selber schuld. Von der sogenannten sexuellen Revolution hatten vor allem die Männer profitiert.
Robert stemmte sich hoch, der Quilt rutschte zu Boden. Fischgratparkett, stellte er fest, ausgebleicht und zerkratzt. Er trat ans Fenster, das mit Vorfenstern ausgestattet war und Beschlägen aus Schmiedeisen. Es musste ein herrschaftliches Haus gewesen sein, das inzwischen heruntergekommen war. Gegenüber, in einer Zeile älterer Bauten, stand ein moderner Block mit schreiend roter Fassade und quadratischen Fenstern mit Lamellenstoren, die meisten von ihnen geschlossen. Wollishofen, vermutete er, obwohl er weder den See noch eine Tramlinie sehen konnte. Vielleicht Wiedikon. Eines der alten bürgerlichen Quartiere der Stadt. Den Gehsteig entlang parkten Autos in dichter Reihe. Der Asphalt der Strasse glänzte vor Nässe, es regnete noch immer.
Die Tür zum Raum, in dem er übernachtet hatte, führte in eine Diele. Der Boden knarrte, in einem Zimmer nebenan fehlte die Tür. Matratzen lagen am Boden, darauf türmte sich Bettzeug, ein Pandabär aus Plüsch hockte auf einer Kiste, Bücher stapelten sich auf einem Brettergestell. Auf einer Tischplatte auf Böcken standen ein Flachbildschirm, Laptop und Scanner, auf einem alten Taburett ein Drucker. Mehrere Leute wohnten in dem besetzten Haus, hatte die junge Frau erklärt. Ein Zufall hatte sie zusammengeführt, sein verlorener Koffer und der Tod des Martin Kunz, den sie beide gekannt hatten. Mit dem Velo war er verunglückt – oder in den Tod getrieben worden, wie sie überzeugt war. Sie studiere Politikwissenschaften und helfe bei den Grünen gelegentlich auf dem Sekretariat aus. Kunz, so erinnerte sich Robert, hatte sich gern mit schönen Frauen umgeben. Als Anwalt hatte er gut verdient, schnelle Autos gefahren. Dass er aufs Velo umgestiegen war, hatte sicher politische Gründe.
Hinter einer Tür mit Milchglasfenster bewegte sich eine Gestalt. Eine Frau im kurzen Bademantel trat in die Diele, die nassen Haare hingen ihr auf die Schultern. Um eines ihrer Beine wand sich eine tätowierte Schlange.
«Entschuldigen Sie, ich durfte hier übernachten.» Robert ertappte sich, dass er das Tattoo auf der weissen Haut ihres Oberschenkels anstarrte, der Kopf der Schlange verschwand unter dem Saum.
«Du bist der Typ, den Ariane angeschleppt hat.»
«Ariane, ja, Ariane.» Er erinnerte sich wieder an ihren Namen.
«Sie musste weg. In der Küche liegt ein Zettel. Du kannst dir Kaffee machen, wenn du willst.»
Die Frau, sehr knochig und bleich, liess ihn stehen, trat in ihr Zimmer zurück und warf die Tür zu. Er hörte sie telefonieren, zuerst in sanftem Ton, dann schrie sie in schrillen Satzfetzen und schluchzte.
Wieder überkam Robert das Gefühl, in einer andern Zeit angekommen zu sein. Jahre waren vergangen, er hatte zwei Leben gelebt, und nun? Vielleicht war es ein Angebot des Schicksals: Zwei Leben gehen dem Ende zu. Entscheide dich für eines davon. Oder beginne ein drittes. Wie Max Frisch, der immer wieder neu begonnen hatte, mit neuen Frauen, neuen Wohnungen, und sich doch nie festlegen konnte. Lynn, die in Wirklichkeit Alice Locke-Carey hiess, war nicht seine letzte Beziehung gewesen. Er hatte sich auch nie für ein Leben in seinem Loft in New York oder im Rustico im Onsernonetal entschieden, zwischen Wohnsitzen in Zürich oder Berlin. Ein früher Pendler der Globalisierung eigentlich. In Wunschträumen malte er sich ein amerikanisches Landhaus aus, nahe einem See, mit einer überdachten Veranda, von fünf hölzernen Säulen gestützt, weiss gestrichen. Es glich Roberts Haus in Iowa City.
Er sah sich in einem Spiegel einer vollgehängten Garderobe. Das faltige graue Gesicht, die hohe Stirn mit schütteren, nach hinten gekämmten Haaren, die schmale Oberlippe, die er hasste.
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